Für das Denken und das Träumen
Für zahlreiche Protagonistinnen und Protagonisten der Studentenbewegung war das, was später als »1968« gelten sollte, im selben Jahr längst wieder vorbei. Der Erinnerungskitsch der runden Jubiläen sorgte schon im 20. Jahrhundert dafür, dass vor allem die Revolte, der Protest und die Parolen in allgemeiner Erinnerung geblieben sind – nicht aber, dass viele Beteiligte zuvörderst am Denken interessiert gewesen waren.
Veranschaulichen lässt sich dies an einer der bekanntesten Protagonistinnen des 1970 aufgelösten Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk. 1937 geboren, studierte sie in Frankfurt am Main und in Paris, schrieb zunächst für die Studentenzeitschrift Diskus und half französischen Deserteuren, dem Algerienkrieg zu entkommen. Früh überregional aufgefallen war sie jedoch nicht wegen politischer Praxis, sondern wegen Theorie. 1962 hatte sie in einem vielbeachteten Referat an der SDS-Delegiertenkonferenz gefordert, die Genossen sollten sich dieser zuwenden, denn ohne Theorie laufe man Gefahr, im Wunsch nach der Erlösung in Unmittelbarkeit steckenzubleiben, und nicht dazu in der Lage zu sein, zu begreifen, was eine Gesellschaft überhaupt auszeichnet.
1983 erschien Lenks Hauptwerk, »Die unbewußte Gesellschaft«, eine Studie zum Traum als ästhetischem Phänomen, für die sie – absolut unkonventionell für eine wissenschaftliche Arbeit – ihre eigenen Träume aufgezeichnet, systematisiert und befragt hatte.
Mit ihrem Plädoyer für das Denken widersetzte sich Lenk scharf der überhandnehmenden Tendenz, gegenkulturellen Habitus zu kultivieren und damit Revolutionsethos zu generieren. Das Missbehagen studentischer Nonkonformisten an der bundesdeutschen Gesellschaft, führte sie damals aus, »wandelt sich in dem Moment um in Behagen, in dem sie auffallen und das Gefühl haben können, nicht zur Masse zu gehören. Sie glauben schon revolutionär zu sein, wenn sie in Jazzkellern sitzen und die Haare à la Enzensberger tragen. Sie glauben schon revolutionär zu sein, wenn sie Roth-Händle rauchen, Konkret oder den Spiegel lesen und, um die spießbürgerliche Umwelt zu schockieren, SDS-Mitglied werden. Für sie gilt – frei nach Adorno – der Satz: ›Sie pfeifen auf die Welt, doch was sie pfeifen, ist ihre Melodie.‹«
Im selben Jahr ging Lenk mit dem Ziel, eine Doktorarbeit zu einem soziologischen Thema zu verfassen, nach Paris. Nachdem sie dort rasch Anschluss an die Surrealisten um André Breton gefunden hatte, änderte sie ihr Vorhaben jedoch. Theodor W. Adorno, ihr Betreuer, machte zwar Skepsis gegenüber jener Kunstströmung geltend, akzeptierte allerdings eine Dissertation über sie. Für die folgenden sieben Jahre standen der Professor in Westdeutschland und die Promovendin in Frankreich in brieflichem Austausch und arbeiteten darüber hinaus auch zusammen. Als Herbert Marcuse 1967 nach Frankreich reiste, ließ Adorno ihn wissen: »In Paris solltest Du unter keinen Umständen versäumen, Elisabeth Lenk kennenzulernen, eine Schülerin von mir und eine der begabtesten Frauen, die ich überhaupt kenne. Sie hat die großartige Einleitung zu den »Quatre mouvements« von Fourier geschrieben, die wir in deutscher Übersetzung vom Institut aus herausgebracht haben.«
Gemeint war Charles Fouriers Schrift »Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen«, die Adorno im Vorjahr herausgegeben und in die Lenk eingeführt hatte. Die Fertigstellung der Promotionsschrift erlebte der Doktorvater jedoch nicht mehr. Nach Adornos Tod übernahm Helge Pross die Betreuung von Lenks Dissertation, die an der Universität Gießen verteidigt wurde und 1971 unter dem Titel »Der springende Narziß« erschien. Darin wollte Lenk André Bretons Wirken als Geschichte eines Mannes beschreiben, »der sich zeitlebens gegen sein Los der Unwandelbarkeit aufbäumt«.
Als Assistentin von Peter Szondi begann Lenk anschließend, sich für Kollektivphantasien zu interessieren. Gemeinsam mit Roswitha Kaever (Katharina Enzensberger) gab sie 1974 eine Anthologie zum Serienmörder Peter Kürten heraus, dem »Vampir von Düsseldorf«, der neun Menschen ermordet sowie mehrere Dutzend Mordversuche und Brandstiftungen begangen hatte, bevor er 1930 verhaftet und anschließend zum Tode verurteilt worden war. In der Weimarer Republik hatte der Kriminalfall enorme Unruhe ausgelöst. Die Aufmerksamkeit der beiden Literaturwissenschaftlerinnen galt dem Massenmörder als einer grausamen Sozialfigur, die die kollektive Wahrnehmung zu erregen und zu bewegen vermag. Hier zeichnete sich bereits ab, was sich durch Lenks späteres Werk ziehen sollte: die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion geteilter Bilder und ihrer Rückwirkungen auf die Einzelnen.
1976 wurde Lenk zur Professorin an der Universität Hannover berufen, an der sie bis zu ihrer Emeritierung Literaturwissenschaft lehrte. Als Silvia Bovenschen im selben Jahr die überaus einflussreiche Ausgabe von Ästhetik und Kommunikation zu »Frauen, Kunst, Kulturgeschichte« verantwortete, steuerte Lenk den Aufsatz »Die sich selbst verdoppelnde Frau« bei, einer ihrer wegweisenden feministischen Beiträge, der sich – wie jene Nummer in toto – von denjenigen Strömungen der Neuen Frauenbewegung absetzte, die dem Denken ab- und dem Gefühl zugeneigt waren. Bovenschen wiederum erörterte im selben Heft die breit diskutierte Frage, ob es eine weibliche Ästhetik gebe, und widmete ihren vielbeachteten Beitrag Lenk. Kurz darauf erschien die erste Ausgabe der von Gabriele Goettle und Brigitte Classen gegründeten Zeitschrift Die Schwarze Botin, zu der Lenk in der Frühphase beitrug – als einzige Professorin inmitten eines Kreises, der ansonsten vor allem durch West-Berliner Bohemiennes geprägt war.
Es war Lenk, die als Erste eine deutschsprachige Ausgabe von Georges Batailles Schriften anregte, bevor eine solche dann von den späten siebziger Jahren an bei Matthes & Seitz erschien. Gemeinsam mit der Philosophin Rita Bischof, damals ebenfalls Autorin der Schwarzen Botin, und mit Xenia Rajewski übersetzte Lenk zwei grundlegende Essays Batailles, die 1978 in einem Band unter dem Titel »Die psychologische Struktur des Faschismus/Die Souveränität« erschienen. In ersterem hatte Bataille die Prinzipien islamischer Herrschaft schon in den frühen dreißiger Jahren mit derjenigen des Nationalsozialismus in Deutschland und dem Faschismus in Italien in Verbindung gebracht, ein Befund, dessen politische Brisanz sich erst viel später abzeichnen würde. Dass von dieser Ausgabe ein Raubdruck kursierte, ist mehr als eine unterhaltsame Anekdote, zeigt sich daran doch, dass Teile der bundesdeutschen Linken in den späten siebziger Jahren bereit waren, ihre marxistischen Überzeugungen herausfordern zu lassen.
1983 erschien schließlich Lenks Hauptwerk, »Die unbewußte Gesellschaft«, eine Studie zum Traum als ästhetischem Phänomen, für die sie – absolut unkonventionell für eine wissenschaftliche Arbeit – ihre eigenen Träume aufgezeichnet, systematisiert und befragt hatte. »Ich wollte die Geschichte des Imaginären, also die Geschichte von etwas aufzeichnen, was nie existiert, was sich nie zum Sein verfestigt hat«, schrieb sie darin einleitend. »Es ging mir um die Beschreibung einer negativ aktiven Kraft, die alles Seiende in das Innerste ihres Strudels hineinzieht.«
1986 gab sie dann eine Auswahl ihrer Essays, allesamt überaus lesenswert, unter dem Titel »Kritische Phantasie« heraus. Mit der Distanz von zwei Jahrzehnten – konkret: dem Scheitern von Achtundsechzig, seinen autoritären Verfallserscheinungen wie dem Linksterrorismus und den K-Gruppen, der zügigen Integration der Neuen Frauenbewegung in den Staat – schien ihr selbst bereits vieles historisch. An ihrem eigenen Fourier-Beitrag fiel ihr beispielsweise auf, dass sie »die Person, die ich damals war, um ihre empathische Vorstellung von einem möglichen kollektiven Glückszustand« beneidete. Unter ihren Aufsätzen fand sich auch »Pariahbewusstsein und Gesellschaftskritik bei einigen Schriftstellerinnen der Romantik«, der entstanden war, nachdem Lenk bemerkt hatte, dass diese »gleichermaßen soziologische und literaturwissenschaftliche Kategorie« weder »in dicken und dünnen Büchern« noch in »Aufsatzsammlungen berühmter und unberühmter Germanisten« je analysiert worden war.
Darüber hinaus verfasste Lenk zahlreiche kleine, verstreute Schriften, die entweder anderen Autoren und Autorinnen – darunter de Sade, Richard von Krafft-Ebing, Theodor Lessing oder Annemarie Hager – oder aber den 1933 abgeschnittenen Avantgardetraditionen galten. Mit dem Diktum »Die verantwortliche und freie Tat ist die Kunst« beschloss sie 1989 ihre Überlegungen zur Ethik des Ästhetischen. Hinzu kamen zahlreiche Artikel zu Adorno.
Ihren eigenen Briefwechsel mit diesem gab Lenk 2001 heraus, drei Jahre später folgte in der Bibliothek Suhrkamp ein Band zu Rudolf Borchardts »Jamben«. An der »Zornmusik« des Lyrikers, dessen Dichtung 1935 in Reaktion auf die Nürnberger Rassengesetze entstanden waren, interessierte sie vor allem »Sprache als Substanz der Gesellschaft«; ihr ausführlicher Kommentar stellte nochmals die Verbindung her zu ihrem akademischen Lehrer. Ihre letzte Veröffentlichung galt explizit der Kritischen Theorie: 2006, als die Frankfurter Schule an den hiesigen Universitäten längst selbst zu einer Erinnerung verblichen war, gab sie gemeinsam mit Gesa Lolling eine Sammlung an Texten »von, über und für« Rolf Tiedemann heraus. Im selben Jahr versuchte sie, die immense Bibliothek von Brigitte Classen zu retten, die nach deren Tod aufgelöst werden sollte und die nicht nur aufgrund des Interesses der einstigen Weggefährtin am Surrealismus von erheblicher Forschungsrelevanz gewesen wäre. Es gelang ihr nicht.
Zur englischsprachigen Veröffentlichung ihrer Korrespondenz mit Adorno reiste Lenk 2015 gemeinsam mit Rita Bischof in die Vereinigten Staaten, wo sie die Publikation am Hannah Arendt Center for Politics and Humanities des Bard College vorstellte. Es waren einige ihrer letzten öffentlichen Auftritte. Die kommenden Jahre lebte sie, geschwächt von Alter und Krankheit, zurückgezogen. Am 16. Juni 2022 ist Elisabeth Lenk im Alter von 84 Jahren in Berlin gestorben.
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