Die Redaktion
dokumentiert im Folgenden einen bereits in stark gekürzter Version
in der Zeitschrift Versorgerin (Juni 2017) erschienenen Text
von Paulette Gensler, dem wir größtmögliche Verbreitung wünschen.
Stirner, Mittelklasse und
existentielle „Ideologiekritik“
In heutigen
ideologiekritischen Texten spielt Max Stirner so gut wie keine Rolle.
Dies erscheint wie eine Umkehrung seiner immensen Bedeutung in der Deutschen
Ideologie, deren Rezeption selbst keine besonders rühmliche darstellt,
wobei man sich gern damit rechtfertigt, dass Marx und Engels diese ja
schließlich selbst den Mäusen zum Fraß überlassen haben. So heißt es noch
in einer zusammengeschusterten Sammlung der Marxschen Frühschriften
des Stuttgarter Alfred Kröner Verlags im Jahre 1953, dass man auf die
Herausgabe großer Teile der Deutschen Ideologie verzichtet
habe, da diese Teile so gut wie ausschließlich einer mehr bissig-artistischen
als produktiven Polemik gewidmet sind. (1)
In der Einleitung
erfährt man dann, welche großen Abschnitte wohl gemeint sind aus der Deutschen
Ideologie, deren erster Teil eine positive Auseinandersetzung
mit Feuerbach und eine in ihrer Langatmigkeit und akrobatischen Klopffechterei
unerquickliche Kritik des Buches von Max Stirner Der Einzige und
sein Eigentum unter dem Titel Sankt Max enthält. (2) Der zweite
Teil gebührt den Verkündern des wahren Sozialismus, aber positiv
wichtig ist nur der erste Teil über Feuerbach. Dies scheint trotz Adornos
Schrift Jargon der Eigentlichkeit allgemein recht anerkannt zu
sein. Doch selbst der fleißigste der heutigen Stirner-Apologeten,
Bernd Laska, erkennt im Gegensatz zu den meisten Antideutschen im Untertitel
Zur deutschen Ideologie des Werkes Adornos wenigstens die Andeutung,
dass die aktuelle Konfrontation Adorno/Heidegger eine Entsprechung
in der einstigen Marx/Stirner habe. (3) Gleichzeitig weiß er aber zu vermelden,
dass weder Adorno noch Horkheimer noch irgendein anderer Autor, der
dem Institut angehörte oder nahestand, jemals Stirner thematisiert
(4) hätten. Dabei hatte sich schon Hans Mayer in seinem Beitrag für den
1936 in Paris erschienen Sammelband der gemeinsamen Studien über
Autorität und Familie mit Stirner auseinandergesetzt. (5) Obwohl
Stirner hier vor allem als Anarchist betrachtet wird und wahrlich nicht
den Hauptteil des Artikels abbekommt, sind sämtliche Kernkritikpunkte
in ihren Grundzügen ausformuliert, da der Anarchismus selbst in seiner
Zweifrontenstellung: einmal gegen das Bürgertum und den Staatsapparat,
zum anderen gegen den Marxismus und die Ziele und Methoden des Klassenkampfes
als typische Ideenlage von Mittelschichten eingeordnet wird. (6)
Stirner firmiert dann vor allem als Stifter des anarchistischen Individualismus.
Ein kurzer
Umweg über die Gegenwart: Philipp Lenhard schreibt in einem seiner von
der Intention löblichen Artikel beispielsweise über Marx, der Stirner
in seiner Schrift Deutsche Ideologie bei weitem den
größten Raum einräumte, ohne ihn wirklich treffen zu können (7) – Warum
bzw. inwieweit erwähnt er leider nicht. In der Einleitung zum Sammelband
Gegenaufklärung, in der sie Stirner völlig richtig als einen
der frühsten und wichtigsten Vertreter deutscher Ideologie (8) benennen,
schreibt Lenhard – diesmal mit Alex Gruber: In Stirners konsequentem
Nominalismus kommt die Revolte des Bürgers gegen die Herrschaft des
Abstrakten zum Ausdruck. (9) Und in eben diesem Satz, obwohl an diesem
fast alles richtig ist, treffen sie im Gegensatz zu Marx und Engels Stirner
gerade nicht bzw. noch viel weniger. Lenhard und Gruber gehen hierbei
gewissen Stirner-Kritikern, wie Moses Hess, auf den Leim, die ihn für
einen bürgerlichen Ideologen halten.
Wenige
Jahre später ließ man im selben Freiburger Verlag Jörg Finkenberger
gegen einen Autor aus der leninistischen (?) Tradition [pöbeln, der]
sich veranlasst fühlt, Stirner zu einem Vorläufer Hitlers zu machen.
(10) Gemeint war der drei Jahre zuvor verstorbene Hans G Helms. Dieser
wurde 1932 in Mecklenburg geboren und überlebte den Nationalsozialismus
unter anderem in Berlin mit gefälschten Papieren. Nach ’45 weilte er
mit einem Nansen-Pass an verschiedenen Orten außerhalb Deutschlands.
In den 1960ern war Helms nach eigener Aussage so eine Art Privatschüler
von Adorno und Horkheimer und wurde von Adorno eingeladen, ein einwöchiges
Privatseminar über Max Stirner abzuhalten; seine Hörer waren u.a. Jürgen
Habermas, Max Horkheimer, Gerhard Schweppenhäuser, Rolf Tiedemann
und Gretel Adorno. Daraus entstand Die Ideologie der anonymen Gesellschaft.
Max Stirners Einziger und der Fortschritt des demokratischen Selbstbewusstseins
vom Vormärz bis zur Bundesrepublik, (11) in der er versuchte,
Marx’ und Engels’ Deutsche Ideologie/Sankt Max, Kracauers Angestelltenstudie
sowie die nahezu zeitgleich zu seiner Schrift entstandene, aber zwei
Jahre früher beendete und veröffentliche Jargonkritik Adornos zusammenzudenken.
Dabei verfasste er nach Marx und Engels zum zweiten Mal eine Kritik von Der
Einzige und sein Eigentum, die ausführlicher war als das kritisierte
Werk selbst.
Hätte der
militante Ideengeschichtler Finkenberger von dem Buch ein wenig
mehr als den Klappentext gelesen, wüsste er, dass der Stirner-Hitler-Bezug
nur sehr bedingt oder eher vermittelt vorliegt. Helms erkennt zwar gewisse
[!] Gemeinsamkeiten in den Geschichtsvorstellungen Stirners und Hitlers
(S. 125), aber nicht deswegen ist die Geschichte des Stirnerianismus
[also die Rezeption Stirners; P.G.] zugleich eine Geschichte des Faschismus,
(S. 4; m. Hrvh.) sondern er betont, dass ebendieser Stirnerianismus
und Nationalsozialismus Variationsformen desselben faschistischen
Ungeists sind. (S. 5) Bei Franz Neumann fungiert Max Stirner, der Anarchist
zusammen mit Dühring und Ahlward noch als wichtiger Teil einer Flut von
antisemitischen Schriftstellern (12), wohingegen Helms ganz dezidiert,
wenn auch nur in einer Fußnote vermerkt: Ein Antisemit war Stirner
nicht. (S. 297 u.) Stirners Werk hatte nach Helms durchaus kontinuierliche
Wirkung, sie war mittelbar, deswegen nicht weniger intensiv. (S.
314) Jene außerordentlich mittelbare Wirkung habe sich vor allem in
pädagogischen Journalen sowie im Journalismus, Film und Kunst (S.
407) entfaltet. Schließlich konkretisiert er gegen Ende des Werkes die
Ideologie Stirners sei vor allem zu verstehen als Vorbereitung auf faschistische
Praxis. (S. 478) Es ist weder Zufall noch Nachlässigkeit, dass vor dem
Akkusativobjekt weder ein bestimmter noch ein unbestimmter Artikel
steht. Die damit angedeutete Fungibilität begründet sich vor allem
dadurch, dass im Einzigen ebenso wie in Mein Kampf die Fassade
der Kern ist. Einen eigentlichen Kern gibt es nicht. (S. 197) Aber noch
einmal auf Anfang: Anlass der Arbeit war die ideologische Lage der Bundesrepublik
Deutschlands (S. 1) oder in Adornos Worten das Nachleben des Nationalsozialismus
in der Demokratie. Weiter heißt es: Der Faschismus ist das Produkt des
Mittelstandes. Seine Ideologie stellt das Ersatzklassenbewusstsein
der Mittelklasse dar, der Klasse der Verwalter und Verteiler, der übrigen
dienstleistenden Berufe, der Scheinproduzenten und Produzenten
des ideologischen Scheins. (S. 1)
Der Einzige in seinen eigenen Worten
Stirner
stellte das Goethe-Zitat Ich hab’ Mein Sach’ auf Nichts gestellt!
(13) seinem Werk als Motto voran, um sich unter anderen der guten Sache,
jener Gottes, der Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der
Humanität, der Gerechtigkeit zu entsagen ferner [auch der] Sache Meines
Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar [der] Sache
des Geistes. Er beklagt sich nun: Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache
sein. Aber Stirner findet ein Vorbild, denn der
Sultan
hat seine Sache auf Nichts, als auf sich gestellt: […] Ich Meinesteils
[will] lieber selber der Egoist sein. Gott und die Menschheit haben
ihre Sache auf Nichts gestellt, auf nichts als auf Sich. Stelle Ich denn
meine Sache gleichfalls auf Mich, der Ich so gut wie Gott das Nichts von
allem anderen, der Ich mein alles, der Ich der Einzige bin. […] Ich bin
nicht Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts,
das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer alles schaffe. Fort
denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist! […] Meine Sache
ist […] allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist
– einzig, wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich! (14)
In diesem
Duktus und in derselben Eigenlogik geht es im gesamten Einzigen weiter,
weshalb man fast zwangsläufig zu längeren Zitaten zurückgreifen
muss, denn es ließe sich in keiner Paraphrase nachbilden. Die Qual der
Lektüre mag diese Unmöglichkeit ersetzten. Da aus jeder Zeile der Einleitung
schon die Immunität gegen Argumente spricht, welche für die Deutsche
Ideologie charakteristisch werden sollte, verfasste Marx seine Kritik
über weite Strecken als Sprachkritik, in der er sich über den Heiligen
Max oder Sancho Pansa belustigt. Wenn also Adorno in seiner Notiz zum
Jargon der Eigentlichkeit schreibt, dass die zeitgemäße deutsche Ideologie
sich vor faßbaren Lehren hüte, und in die Sprache gerutscht sei, (15)
wäre dem zu entgegnen, dass jenes schon für die ältere galt. Auch Stirners
Schrift bezieht ihre Wirkung maßgeblich aus der schlechten Sprachgestalt
sowie aus der Unwahrheit des mit ihr gesetzten Gehalts, der impliziten
Philosophie, (16) weshalb Adorno in der mündlichen Besprechung des
Helmschen Werkes auch anmerkte, Stirner habe den Hasen aus dem Sack gelassen.
(S. 200) (17)
Als Jörg
Finkenberger noch in anarchistischen Zeitschriften veröffentlichte,
schrieb er ohne Hinweis vor allem von Henri Arvon (18) Folgendes ab: Marx
vermeidet an den meisten Punkten die Auseinandersetzung mit dem logischen
Hauptpunkt, den Stirner aufgeworfen hatte. (19) Dieser bestehe laut
Finkenberger in der Frage, ob der Mensch, die Menschheit als Abstraktum,
als Gattung und als Ideal, nicht ebensogut eine religiöse Vorstellung
[sei]? oder in der Antwort, dass die Menschen, die darunter verstanden
werden sollen, notwendig einzelne, notwendig leibliche, notwendig
auf Begriffe nicht reduzible sind. In seiner eigenen Tradition
hätten beide, Marx und Stirner, ihre verschiedenen Plätze, wobei Stirner,
ebenfalls Verfasser einer Synthese, und zwar einer ganz und gar negativen,
notwendiges Korrektiv Marxens sei. Bei Marx hingegen ließe sich in
zahlreichen Werken nachlesen, dass dieser Punkt bei ihm sehr wohl eine
Rolle spielt, aber nicht zu hypostasieren ist.
Der Einzige besteht laut Helms vor allem aus
einer Negation der Geschichte, der geschichtlichen Zusammenhänge
und Kausalitäten, und dem autoritär Ideologischen, das die gesellschaftlichen
Kräfte des Bestehenden ebenso abwehren und vor ihnen Schutz bieten
soll wie sie in den Griff bekommen, um sie gegen andere zu wenden. (S.
70) Zusammen kommen beide Momente (tabula rasa und Tischlein deck
dich) in der Insistenz auf Empörung, welche Revolutionsersatz und
Konterrevolution in einem ist. (S. 70) Der Mensch und Ich heißen die
beiden Teile des Hauptwerks von Stirner. Das Ich (20) besteht aus Eigenheit,
Eigner und Einzigem. Sein Werk endet mit den Worten:
Man sagt
von Gott: Namen nennen Dich nicht. Das gilt von Mir: kein Begriff drückt
Mich aus, nichts, was man als mein Wesen angibt, erschöpft Mich; es sind
nur Namen. Gleichfalls sagt man von Gott, er sei vollkommen und habe keinen
Beruf, nach Vollkommenheit zu streben. Auch das gilt allein von
Mir. Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es dann, wenn Ich Mich
als Einzigen weiss. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches
Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über
Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit
und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewusstseins. Stell’ Ich auf
Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem Vergänglichen,
dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und Ich darf
sagen: Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt. (21)
Was mit
dem Sultan begann, an dessen Stelle sich Stirner setzen wollte, endet
nun also mit Gott, der er längst selbst sei. Helms hebt hervor, wie sehr
Stirner mit der göttlichen Namenslosigkeit nur die eigene Anonymität,
zu der er verurteilt ist, noch einmal selbst unterschreibt und diese
sowie sich selbst in diesem Schritt überhöht. Im Gegensatz zum dialektischen
Verhältnis von wirklichem und wahrem Menschen, Bourgeois und Citoyen,
geht es Stirner eher darum, den einen mit dem anderen totzuschlagen,
(S. 95) denn er kann die Wechselbedingung von homme und citoyen nur als
unvermitteltes Entweder-Oder artikulieren. (S. 96) Letztlich verfasste
Stirner eine Ideologie des Selbstwertes, den man sich bekanntlich auch
nur selbst geben könne. Es heißt bei Stirner aber zumindest etwas ehrlicher:
Wisse
denn, Du hast so viel Geld als Du – Gewalt hast; denn Du giltst so viel, als
Du Dir Geltung verschaffst. Man bezahlt nicht mit Geld, woran Mangel eintreten
kann, sondern mit seinem Vermögen. (22)
Gegen die
Kommunisten und den Wert der Arbeitskraft, der sich erst im Tausch realisiert,
führt er an: Was Du vermagst, ist dein Vermögen! (23) Was man kann, hat
man schon – jedenfalls in dieser Ideologie des Humankapitals. Er präzisiert:
was Ich zu haben vermag, das ist mein Vermögen. Und vergleicht es mit dem
Vermögen des Säuglings der Mutter durch Geschrei Milch abzupressen,
aber vermagst Du keinen für Dich einzunehmen, so magst Du eben verhungern.
Wie die Vereinnahmung zu erfolgen habe, manchmal taucht ein Lust bereiten
auf, ist des Weiteren mit dem Geschrei des Säuglings schon angedeutet.
Die nährende Mutter hingegen bleibt vorerst im Dunkeln, um sich später
als der Staat zu entlarven.
Zentrales
Motiv Stirners ist die Staatskritik oder eher -feindschaft (wohlgemerkt
in seiner Vorstellung als bezahlter Beruf, d.h. als Geschäft für den
Staat) – er schreibt, nachdem mehrere Bewerbungen Stirners für Staatsdienste
(wie das Lehramt) aufgrund mangelnder Qualifikationen abgelehnt
worden waren:
Der Staat
lässt Mich nicht zu meinem Werte kommen und besteht nur durch meine Wertlosigkeit:
er geht allezeit darauf aus, von Mir Nutzen zu ziehen, d.h. Mich zu exploitieren,
auszubeuten, zu verbrauchen, […]. Nur dann kann der Pauperismus gehoben
werden, wenn Ich als Ich Mich verwerte, wenn Ich Mir selber Wert gebe,
und meinen Preis selber mache. Ich muss Mich empören, um emporzukommen.
(24)
Staat und
Gesellschaft sind dabei einerlei, da beides irgendwie abstrakt sei
und demnach abzuschaffen, sofern er dem Einzelnen nicht vollends zu
Willen und Nutzen ist. Wie dem kleinen Kind die abwesende Mutter zur
bösen Mutter wird, ergeht es Stirner mit dem Staat. Er übersetzte zwar
Adam Smiths Wealth of Nations, was jedoch keine große Wirkung auf
ihn gehabt zu haben schien, außer dass er aus sehr selektiver Rezeption
seinen Vulgäregoismus und -staatshass entwickelt zu haben scheint.
Da Stirner selbst aber vom Ich immer wieder ins Wir rutscht, muss für Letzteres,
das sich gemeinsam eben stärker und somit erfolgsversprechender empören
kann, eine Form gefunden werden: Ich vernichte [Staat und Gesellschaft]
und bilde an ihrer Stelle den Verein von Egoisten. (25) Oder: Die Auflösung
der Gesellschaft aber ist der Verkehr oder Verein. (26) Dieser Verein
ist dabei keineswegs skizziert als eine Assoziation, worin die freie
Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller
ist (27), sondern:
Der Unfreiheit
und Unfreiwilligkeit wird er gleichwohl noch genug enthalten. Denn
sein Zweck ist eben nicht – die Freiheit, die er im Gegenteil der Eigenheit
opfert, aber auch nur der Eigenheit. (28)
Sein Kampf
gegen das Heilige ist ein heiliger Krieg gegen jegliche Kulturleistungen,
die in der Regel Triebbeschränkungen oder zumindest -aufschübe erfordern.
Eher als den Egoismus meinen die Begriffe der Eigenheit und Empörung
deshalb die Enthemmung und Ermächtigung zum Raub im Namen des Rechts
des Stärkeren:
Zu welchem
Eigentum bin Ich berechtigt? Zu jedem, zu welchem Ich Mich – ermächtige.
Das Eigentums-Recht gebe Ich Mir, indem Ich Mir Eigentum nehme, oder Mir
die Macht des Eigentümers, die Vollmacht, die Ermächtigung gebe. Worüber
man Mir die Gewalt nicht zu entreissen vermag, das bleibt mein Eigentum;
wohlan so entscheide die Gewalt über das Eigentum, und Ich will alles
von meiner Gewalt erwarten! (29)
Im Endeffekt
liest er Hobbes rückwärts und schreibt mit. Statt der Angst des Hobbes ist
das treibende Motiv nun der Berserkermut Stirners, der den Naturzustand
mit positiven Vorzeichen versieht – der Kampf aller gegen alle, aber im
Verein mit Gleichgesinnten, ist das Ziel. Wie ein typischer Parvenü-Charakter
Balzacs verkündet er gegen Kant: Wir haben zueinander nur eine Beziehung,
die der Brauchbarkeit, der Nutzbarkeit, des Nutzens. (30)
Die berühmtesten Schüler und ihre Klasse
Auch Helms
kommt zu dem Schluss, dass Marx und Engels Stirner verfehlt hätten. Sie
hätten eine gewisse Blindheit gegen die Gefährlichkeit Stirners gezeigt,
und aus taktischen Gründen selbst die erkannten Inhalte untertrieben,
da sie vor allem seine Wirkung auf die herrschende Bourgeoisie befürchteten.
(S. 147) Im Falle Marxens bis hin zu Buber sei dies noch nachvollziehbar,
aber bei Jüngeren ist es unverzeihlich: die Machtübernahme des Mittelstandes
ist ein historisches Faktum. (S. 186) Die Revolte des Bürgers, von der
Lenhard und Gruber oben schrieben, ist eben keine des Bürgers im klassischen
Sinne. Helms hat dies vor einem halben Jahrhundert schon ausführlich konkretisiert:
Stirner hat nicht die Ideologie der Mittelklasse geschaffen: das Entstehen
der Ideologie ist eine Konsequenz der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Der Einzige ist lediglich ihre erste konsequente Formulierung.
Zeitgenossen hätten diese nicht erkennen können, da sie ihre Wirkung
in der und auf diese Klasse erst entfaltet habe, als die Entwicklung der
Produktions-, Administrations- und Distributionsverhältnisse
die Mittelklasse für diese Wirkung empfänglich gemacht hatte. (S. 3f)
Die Kritik
der anonymen Gesellschaft besteht deshalb aus zwei Strängen, welche beständig
Bezug aufeinander nehmen: Zum einen aus dem Nachvollzug der Hauptströmungen
der Wirkung Stirners bis in die Gegenwart, welche in der Tat manchmal
das Mal des Konstruierten trägt. Das liegt jedoch in der Natur des Gegenstandes
wie auch in dem enormen Zeitraum, den er zu überblicken versucht. Die
Konstruktion wäre aber konkret auszuweisen und vor allem als falsche
zu belegen. Helms nimmt inhaltlich Stirner, wie Marx, weniger ernst
als seine Adepten, gleichzeitig jedoch seine Rezeption, also seine
Adepten, äußerst ernst. Die gesamte von Helms aufgezeigte Rezeption
lässt sich hier nur andeuten. Laut Finkenberger sei Stirner von Marxisten
nach dem 20. Jahrhundert mit Demut zu begegnen, denn Stirners Schüler
haben kaum eine solche Bilanz aufzuweisen wie etwa Stalin und Mao. (31)
Wenn er mit Schüler euphorische Leser meint, muss er nicht nur Mussolini
und den Hitler-Mentor Dietrich Eckart sondern auch Martin Heidegger,
Georges Sorel, Silvio Gesell, Carl Schmitt und Richard Wagner sowie Rudolf
Steiner, Max Adler, Dostojewski, B. Traven, Wedekind und Shaw, Ernst
Jünger sowie Spengler oder Eduard von Hartmann ihren Rang absprechen. (32)
Hans G Helms scheint geahnt zu haben, dass seine Analyse nicht gerade
mit Wohlwollen aufgenommen werden wird, und begegnete dem schon im
Voraus mit einer gehörigen Redlichkeit. Neunzig Seiten Literaturverzeichnis,
in dem die untersuchten Schriften, nach Entstehungs- und Veröffentlichungszeitpunkt
geordnet, noch einmal extra in Bezug zueinander gestellt wurden, und
1358 Fußnoten (33) stehen zur Überprüfung für Kritiker bereit, die
sich bisher jedoch alle davor gedrückt haben. Gegen ein generell als Einwand
beliebtes Argument, dieser oder jener hätte in dem Falle Stirner gar
nicht verstanden und stünde deshalb nicht in seiner Tradition, wendet
Helms, der bestrebt war, gewisse Stränge der Rezeption wirklich bis
in die allerletzte und latenteste Ecke nachzuvollziehen, am Beispiele
Dietrich Eckarts ein, dass dieser in seiner profunden Halbbildung, den
Einzigen aufs Schönste missverstanden hatte, um dennoch zum selben
Resultat: der prinzipiell gesellschaftsfeindlichen Haltung zu gelangen.
(S. 485)
Die Fleißarbeit
wäre schon bemerkenswert genug, wiewohl die Redlichkeit eine gewisse
Redundanz mit sich bringt. Rückgebunden wird jedoch immer an den zweiten
Strang der Arbeit, in welchem die zur Rezeption Stirners parallele
Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse,
dabei besonders die Entwicklung des Mittelstandes und Kleinbürgertums
als Klasse nachvollzogen werden. Es geht somit um die Frage, wie jenes
Wir, (34) das bei Stirner allem radikalen Individualismus zum Trotz
auch schon immer präsent ist, in der späteren Folge komplett freigesetzt
werden konnte; weshalb also Heidegger 1935 mit widerlichem Recht apologetisch
verkünden konnte: Jetzt ist die Wirzeit statt der Ichzeit. (35) So
schreibt Helms auch über Marx und Engels: Wäre es ihnen gegeben gewesen,
die Wege zu erforschen, die der Einzige seitdem gegangen ist,
der Spott wäre ihnen vergangen. (S. 212)
Wenn zwei sich streiten, …
… freut
sich der Dritte und vor allem kommt es zu Verwirrungen. Über Klassen zu
reden, ist wahrlich nicht in Mode in ideologiekritischen Kreisen –
teils oder sogar meist aus guten Gründen. Helms hingegen versucht sich an
einer Einordnung der Mittelklasse aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess
und im Klassenkampf, um von zwei anderen Begriff wegzukommen, welche
sehr viel geläufiger sind: Mittelstand verweist auf einen angeblich
vorkapitalistischen, ständischen Charakter; Mittelschicht hingegen
ist eher die statistische Einordnung in Einkommensklassen. Die angelsächsische
Unterteilung in blue collar und white collar ist auch nur eine sehr äußere
Betrachtung, die beispielsweise im ersten Fall Industriearbeiter
und Handwerker ziemlich kontrafaktisch in eine Kategorie packt, und
nur die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit markiert. Wie
der Begriff des Bürgers im Sinne des Bourgeois oft überstrapaziert
wird, verhält es sich auch mit dem des Proletariers, Lohnarbeiters –
und somit natürlich auch mit dem Kleinbürger bzw. Mittelständler. Im
Marxschen Manifest heißt es noch: Die bisherigen kleinen Mittelstände,
die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker
und Bauern, alle diese Klassen fallen ins Proletariat hinab. (36)
Kleinbürger
sind in der älteren Theorie vor allem diejenigen Leute, die mit den Proletariern
gemein haben, ihre Arbeitskraft verkaufen zu müssen, mit dem Bourgeois
hingegen auf einem sehr geringen Niveau den Besitz an Produktionsmitteln.
Die Kleinbauern und Handwerker sind die nur formell subsumierten Berufe.
Marx nennt diesen Kleinbürger lebendigen Widerspruch sowie zusammengesetzt
aus Einerseits und Andererseits, ihm bleibt nur noch ein treibendes
Motiv, die Eitelkeit des Subjekts. (37) Er bildet eine Übergangsklasse,
worin die Interessen zweier Klassen sich zugleich abstumpfen [und]
dünkt sich über den Klassengegensatz überhaupt erhaben. (38) Dabei
haben die Verfasser des Manifest die Bedeutung des Kleinbürgertums
schon erstaunlich scharf erfasst: In Deutschland bildet das vom 16. Jahrhundert
her überlieferte und seit der Zeit in verschiedener Form hier immer neu
wieder auftauchende Kleinbürgertum die eigentliche Grundlage der
bestehenden Zustände. Helms setzte (sich) die Aufgabe, die heutige
Form dieses immer wieder neu auftauchenden Kleinbürgertums, nämlich
nach wie vor die Grundlage der bestehenden Zustände, auf der Höhe der
Zeit zu bestimmen.
Kleinbürger
ist ein sehr neuer Begriff wie der des Angestellten auch – vor allem war
dieser letzte Begriff in seinen Anfängen nicht vom Beamten geschieden.
Bei Marx hingegen gelten manche Angestelltengruppen noch als kommerzielle
Arbeiter etc. Auf diese Angestellten richtete Kracauer 1930 erstmals
einen konzentrierten Blick und betrachtet dabei vor allem Privatangestellte
in Handel, bei Banken und im Verkehr, vermerkt jedoch ferner auch ein
starkes Ansteigen der Industrieangestellten sowie jener in Behörden,
Organisationen usw. (39) Er ist der Erste, der in dieser Zunahme
einen dialektischen Umschlag der Quantität in die Qualität registriert
– oder inhaltlich ausgedrückt: die Qualität ist in die Quantität umgeschlagen,
was sich vor allem in der Rationalisierungsperiode 1925 bis 1929 realisiert
habe. (40) Aus den Marxschen industriellen Offizieren und Unteroffizieren
sei nun ein stattliches Heer geworden. (41) Kracauer schreibt weiter:
Die Proletarisierung der Angestellten ist nicht zu bestreiten. Und
schränkt das kategorische Urteil im folgenden Satz sofort ein: Jedenfalls
[!] gelten für breite, im Angestelltenverhältnis befindliche
Schichten ähnliche soziale Bedingungen wie für das eigentliche Proletariat.
[Diese] nötigen sie dazu, sich mindestens in ökonomischer Hinsicht
als Arbeitnehmer zu fühlen [!]. (42) Die Schwammigkeit dieser Aussage,
welche sich mehr auf subjektives Empfinden als objektiv Bestimmungen
bezieht, ist selbst Ausdruck der Wahrheit, nämlich der Pseudomorphose
der Klassengesellschaft an die klassenlose. (43) Ökonomisch seien
sie schon Proletarier, ideologisch noch Bourgeois – genau aus dieser
Schizophrenie entspringt der dritte Weg des modernen Mittelstandes.
Wichtig
in Anbetracht der Marxschen Detaildifferenzierungen, vor allem im
zweiten und dritten Band des Kapitals, ist die Prognose, dass die Grenze
zwischen dem Beamten und dem Privatangestellten immer schwerer festzulegen
ist, da sich beide massiv annähern. (44) Bei Marx ist das Kleinbürgertum
noch primär durch Restselbstständigkeit geprägt. Eben auf diese Form
des Kleinbürgertums bezieht sich Franz Neumann, wenn er schreibt: Die
Mittelschichten haben aufgehört als eine Klasse zu existieren, aus
der sich eine demokratische Gesellschaft wieder aufbauen lässt. (45)
Das demokratische, progressive Potenzial dieser Klasse sah also
auch Neumann in dem letzten Funken Eigenständigkeit, wobei beides unrettbar
verloren wäre. Der Fokus sei deshalb insbesondere auf die nichtakademischen
Beamten […] des mittleren und gehobenen Dienstes zu richten, denn
viele Naziführer stammen aus dieser Schicht. Die große Masse der Beamten
ist kaum von gewöhnlichen Angestellten zu unterscheiden. Ein Drittel
Jahrhundert später geht Helms nun davon aus, dass die Proletarisierung
der Angestellten/Mittelklasse in Bezug auf die Stellung im Produktionsprozess
und im Klassenkampf nicht stattgefunden habe. Im Zuge der Anonymisierung
der Eigentumsverhältnisse und Verfügungsgewalten (S. 1) und der Arbeitsteilung
von Kapitalbesitz und Kapitalkontrolle (S. 2) übernehmen sie vielmehr
die Kontrolle: Heute ist die Mittelklasse in Stellvertretung herrschende
Klasse. (S. 2) Sie sind Charaktermasken, die weder Arbeit (im industriellen,
oder gar produktiven Sinne) noch Kapital verkörpern, sondern das gesamte
Feld der Dienstleistungen. Dabei kommen ihnen heutzutage vor allem die
Aufgaben des Verkehrs und der Kommunikation (S. 54) und insbesondere
die Kommunikation zwischen Proletariat und Eigentümern (S. 54)
zu. Ihre gesamte Tätigkeit trägt somit den Charakter von Klassenkitt.
Und damit sind sie es, die die heutige klassenlose Gesellschaft in
ihren Kreisen vorweggenommen haben. (S. 56)
Helms ist
keineswegs Klassenfetischist. Dass er selbst es mit seiner Begriffsbestimmung
nicht ganz ernstnimmt, also gegen seine eigenen einleitenden Unterscheidungen
beständig von Mittelstand schreibt, deutet dies schon an. Konträr zu
allen scheinbaren Machtposition steht ihm immer die Machtlosigkeit
der Einzelnen. Mit Blick auf die Eigentümer galt schon, dass Eigentum
an Produktionsmitteln nicht stillschweigend mehr gleichgesetzt werden
kann mit Produktionskontrolle und Verfügungsgewalt über Produktionsmittel
und Produktivkräfte. (S. 66) Aber auch die Angestellten sind keineswegs
die neuen Herren. Vielmehr herrschen ihre Kontroll-, Vermittlungs-, und
Verfügungs-, also kommunikativen Funktionen, die ausgeübt werden,
ohne dass die Funktionäre der Verfügungsgewalt real inne wären.
[Diese] gehört den Institutionen an, nicht deren Verwesern. (S. 63)
Der Mittelstand verfügt durch die rein funktionellen Institutionen
über das administrativ koordinierte Kollektiv lebendiger Quantitäten,
(S. 158) und genau solche quantitative Existenz ist anonyme Existenz.
(S. 165) Diese statistische Anonymität verdeutlicht sich am krassesten
im Aktenzeichen, zu dem alle degradiert werden, letztlich auch der Verwalter
selbst in seiner eigenen Personalakte. Der Mittelstand steht zwischen
Kapital und dem möglichen Streik. Er hat nur seine Ideologie. (S. 69)
Wichtiger
also als eine objektive Stellung im Klassenkampf ist in Helms Betrachtung
die Anfälligkeit für Ideologie. Diese fungiert als primäres Instrument
des zum Interessenkampf verluderten Klassenkampf. (S. 235) Es geht
also vor allem um jene Angestellte, die gerade deshalb niemals streiken
würden, weil dann andere merken könnten, dass ihre Arbeit völlig überflüssig
ist und von niemandem vermisst wird. In ihrer Naivität sind Studenten
(meist irgendwelcher Geisteswissenschaften) vielleicht noch die Einzigen,
die das immer mal wieder ignorieren. Wahrscheinlich ahnen sie schon,
dass sie es später nicht mehr können werden. Eventuell ließe sich die
Ideologieanfälligkeit der von Helms beschriebenen Mittelständler
tatsächlich nach ihrer Streikfähigkeit und -willigkeit zumindest graduell
unterscheiden. In diesem Sinne wäre das Transportgewerbe, in dem Lockführer,
Fluglotsen, und selbst Kindergärtner – weniger als Bildungseinrichtung,
sondern eher in ihrer Funktion als Bewahranstalt – relativ verschont.
(46)
In der
staatlichen Verwaltung, die subjektiv als Gängelei auch kaum vermisst
werden würde, oder nur von jenen, die eh am untersten Rand der Gesellschaft
vor sich hinvegetieren, sieht es schon etwas anders aus. Zumal eine Tätigkeit
direkt in der Elendsverwaltung allzu deutlich und täglich vor Augen
führt, was man scheinbar für ein Glück hat, dass man auf der anderen Seite
vom Schreibtisch sitzt. Am Schlimmsten betroffen sind aber jene aus dem
weiten Bereich der Kommunikation, die am stärksten an ihrer eigenen,
von ihnen immer wieder selbst mit produzierten Ideologie hängen, wie
vormals nur der Bauer an seiner Scholle. (47) Im Gegensatz zu diesem
zeichnen sie sich aber viel eher durch Freiwilligkeit statt durch autoritären
Gehorsam aus. Dies meint neben heutigen Medienschaffenden insbesondere
Beamte oder Angestellte der mittleren oder gehobenen Laufbahn im
Dienst des Staats, der öffentlichen und halb-öffentlichen Institutionen
und [Teilen] der Industrie (S. 233). Besonders in dieser Gruppe vollzieht
sich die Verwandlung der Sachverhalte in Sprachverhalte (S. 223) als
Produktion der Ideologie. In einer recht positiven Besprechung des
Werkes in der ZEIT hieß es:
Allerdings
schillert Helms’ Mittelstandsbegriff etwas, [so] werden die Mittelständler
pauschal mit den Funktionären, den Verwesern der Verfügungsgewalt
gleichgesetzt. Den Thesen schließlich, daß die Mittelklasse noch nie
so mächtig war wie heute, daß sie in Stellvertretung der wirklichen Eigentümer
die herrschende Klasse in allen modernen Industriestaaten und ihr
Herrschaftssystem das der anonymen, statistisch kontrollierten Ordnung
ist, könnte man nur dann vorbehaltlos zustimmen, wenn auch auch das industrielle top
management dem Mittelstand zuschlagen ließe. Dazu werden freilich
nicht allzu viele Soziologen bereit sein. (48)
Wie sie zu
einer Kritik der Gesellschaft ja auch nicht bereit oder fähig sind und
wie ein Zeitautor und Professor, dessen Habilitationsschrift den
Titel trägt: Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus.
Die politische Entwicklung von Handwerk und Kleinhandel in der Weimarer
Republik, der sich also selbst meint mit den Soziologen, nicht einsehen
möchte, dass er mit einem Manager eventuell mehr gemein hat als ihm
lieb ist. Für Leute wie eben diesen Professor, ein akademischer Grad,
der heutzutage oftmals nicht viel mehr als Wissensmanager ist,
scheint Stirner sympathisch zu sein, da man sich mit ihm, der gegen Proletariat
und Bürgertum agierte, von jedem Standpunkt enthoben fühlen kann.
Helms versucht
im Folgenden, den Charaktertypus des Kleinbürgers und Mittelklässlers
(insbesondere in den 50er und 60er Jahren) zu skizzieren. Ausgehend
von dem Postulat, dass für den neuen Mittelstand Vermassung etwas anderes
als für das Proletariat (S. 111) darstellt, sieht Helms in eben dieser
Vermassung, die sich in Verwaltungspaläste in Form der Wolkenkratzer
manifestiert und in der Konkurrenz durch Bürogeräte (Vgl. S.
329ff.), die die Konkurrenz unter den Mittelständlern enorm verschärfte,
Grundmotive des neuen kleinbürgerlichen Charaktertypus. Dieser
hat vor allem seine private Philosophie, denn mit ihr schützt er sich
vor Erfahrung und Vernunft, die ihm bewiesen, dass seine Ohnmacht Ohnmacht
ist. (S. 191ff.) Es ist fast immer eine Form der Lebensphilosophie –
eine Vertauschung gesellschaftlicher Fakten mit subjektiven Gefühlen.
(S. 377) Dabei ist er überaus flexibel und übersetzt mit Leichtigkeit
die veralteten Vokabeln in den aktuellen Jargon. (S. 214) Heute
braucht er es gar nicht mehr selbst, sondern hat weite Teile der Geisteswissenschaften,
die ihm diese Arbeit mittlerweile gerne abnehmen. Der Mittelstand ist
in der Regel halb- bis dreiviertelaufgeklärt oder -gebildet, aber
diese Unterscheidung ist auch schon quantitativ und lässt sich durch
eine Evaluation der Berechtigungsnachweise und Pseudoqualifikationen
überprüfen oder in der Freizeit beim Schauen von Wer wird Millionär?.
Der schon von Stirner stark gemachte imaginäre Zusammenhang des Vermögens,
Fragen zu beantworten mit potenziellem monetären Vermögen wird
redlich bedient. Mit Monopoly und Spielgeld darf man sich sogar für
kurze Momente als echter Eigentümer fühlen. Es ist eine Bewusstseinsstruktur,
die zwischen Vorfreude als schönster Freude, die im Mittelstand kein
Zustand der Weihnachtszeit, keine Freude im Advent, sondern ein permanenter
Zustand ist, auf der einen Seite und Mensch-ärger-dich-nicht auf der anderen
schwankt.
Dabei ist
solche repressive Ambivalenz den objektiven Bedingungen des
Kleineigentümers durchaus adäquat. Sein Eigentum an Konsumgütern
(S. 241) kann nie recht übertünchen, dass er eben keines an Produktionsmitteln
besitzt bzw. trotz ein paar Telekomaktien keinerlei Einfluss auf das
Treiben dieses Ladens ausübt. Sein Reich ist sein Wohnzimmer – von
Helms völlig richtig beschrieben als eine Mischung aus großbürgerlichem
Salon und dem Allzweckgemach der Eigentumslosen. (S. 247ff.) In Konsequenz
ist das Eigenheim [nur] das selbstständig gewordene Wohnzimmer (S.
267). Es ist dabei eben so wenig Grundeigentum wie das Wohnzimmer Salon.
Dass sich in diesen Wohnzimmern nicht wohnen lässt, beweist das massive
Bedürfnis nach Urlaub und Tapetenwechsel. Die Ferien vom Ich sind
eher Ferien vom Über-Ich, zu dem das Wohnzimmer wurde, indem es mit Autorität
ausgestattet wurde – besonders wichtig die literarischen Klassiker,
während die Bücher, welche man wirklich liest, im intimen Schlafzimmer
liegen. Will man sich aller Lumpen endledigen, wie es Stirner fordert,
steht die Freikörperkultur zur Verfügung. All dies ist eine individuelle,
auf Kleineigentum bauende, Schein-Souveränität, die die reelle
Machtlosigkeit übertüncht, wie die ostentative Verachtung für Materielles,
das man nicht hat, den Neid. Mitreden-Können sowie Bescheid- und Besserwissen
erhielt in der Weimarer Republik zunehmend eine enorme Bedeutung,
als in nicht gekanntem Maße Stellen nach Parteibuch vergeben wurden:
Politische Überzeugungen wurden hauptsächliches Tauschobjekt mittelständischen
Feilschens. (S. 433) Zu ergänzen wäre dies um die spätere Verschiebung
vom Parteibuch hin zur Gesinnung, die irgendwie im gesamten Lebenslauf
aufscheinen muss, also mehr Beweise der Haltung erfordert als nur eine
Mitgliedschaft. Die Kritik an Stirners Ideologie hätte aus dem Mittelstand
kommen müssen, doch dort ist sie jauchzend aufgenommen worden. (S.
229) Was sich liest wie die Forderung nach einem Klassenbewusstsein im
revolutionären Sinne oder Standpunktdenken, ist nur die Erkenntnis,
dass der Mittelstand seine Stellung hätte reflektieren müssen, um
nicht penetrant antirevolutionär oder/und deutschrevolutionär
zu agieren, wie er es schließlich tat. Helms suchte die wichtigen Akteure
der Verbreitung der Ideologie vor allem auch in der SPD und den Gewerkschaften
mit ihrer Politik der kleinen Forderungen und winzigen Lohnerhöhungen
(S.362), denn ohne Kollaboration dieser beiden Massenrackets hätte
die kleinbürgerliche Ideologie niemals eine solch immense Wirkung
aufweisen können.
Empörung als Gehalt(svorschuss) der Überflüssigen
Zu erweitern
wäre dies für die heutige Zeit um all jene Personen und Gruppierungen,
die sich der Habermasianischen Zivilgesellschaft verschrieben
haben. Dass man in so gut wie keiner Stellenausschreibung in diesem Bereich
mehr etwas von angemessener oder gar guter Entlohnung liest, so sehr
dies natürlich auch eine dreiste Lüge sondergleichen ist, sondern nur
noch von Selbstverwirklichungs- und Gestaltungsmöglichkeiten und
einem freundlichen Arbeitsumfeld oder gleich mit Naturalien wie dem
täglich frischen Obstkorb geworben wird, ist energischer Ausdruck
dieser durch und durch ideologischen Arbeitswelt. Gerade dort ist die
latente Angst vor dem Abrutschen am größten, in der sich die uneingestandene
Befürchtung ausdrückt, die Verwaltung sei zu einem beträchtlichen
Teil ein Luxus von Kapital und Herrschaft und sachlich unnötig, ja überflüssig;
in allgemeinen Krisenzeiten sei sie das erste, was den als Rationalisierung
getarnten Sparmaßnahmen geopfert werde. (S. 433)
Übertünchen
lässt sich diese Ahnung nur mit maßlosem Engagement, Public Relations
und den Warnungen vor der Katastrophe, welche angeblich eintreten
würde, wann dieses Engagement nicht mehr finanziert werden würde. (49)
Helms beschrieb die ideologischen Aussagen und Botschaften der
Schrift(en) Stirners als Hohlformen, die sich rasch von ihrem Herkunftsort
abgelöst hatten und neue Verbindungen eingegangen waren. (S. 400)
Eben diese völlige Fungibilität der Inhalte ist das Gefährliche
dieses sonst völlig absurden Schreiberlings. Im neusten Deutschland
(vor allem Jahr 2001ff) (50) wirkt die Ideologie vor allem bei den Flexiblen,
heißt Progressiven oder Linken, denn der hauptsächliche Unterschied
zwischen Linken und Rechten besteht mittlerweile vor allem darin, dass
Linke kreativer darin sind, neue Programme, heißt Jobs für sich selbst,
zu schaffen. Die Forderung nach lebenslangem Lernen ist immer auch
eine nach lebenslangem Lehren und nirgendwo dürfte die Forderung
nach bedingungslosem Grundeinkommen ähnlich groß sein wie im reformpädagogisch,
kreativwirtschaftenden Mittelstand, da man hier am ehesten ahnt, dass
man etwas Ähnliches schon erhält – nämlich grundloses Einkommen. (51)
Auch die
Grünen Parteien waren und sind vor allem eine riesige Arbeitsbeschaffungsinitiative
und -maßnahme. Lohnenswerte Bereiche sind vor allem Umweltschutz,
Bioläden, Veganismus, Antirassismus und insbesondere die Flüchtlingshilfe,
in der unzählige neue Jobs entstanden, während gerade Schwarzarbeiter
mit einer größeren Konkurrenz zu rechnen haben. Auch Antisemitismus
gilt nur als Geschäftsmöglichkeit für Antideutsche und sonstige Reflektierte
inklusive pädagogischer, geschichtsträchtiger Kaffeefahrten nach
Buchenwald und der Gleichsetzung von Islamkritik mit Antisemitismus
zum Zwecke der Aktualisierung. (52) Eine der Standardbewerbungsphrasen
lautet, Probleme seien für jemanden Chancen, was nichts anderes
heißt, als dass Leid Anderer schlichtweg eigene neue Berufsmöglichkeiten
bietet, nur klingt es besser. Diese Charakterbeschädigung als Prostitution
des Mitleids zu bezeichnen, ist – wie die balzacsche oder kraussche Bezeichnung
der Prostitution des Geistes für den Journalismus – strenggenommen
eine unzulässige Beleidigung für jede Prostituierte, denn diese
weiß nur zu gut, dass die Liebe, die sie verkauft, nur Erscheinung ihrer
Arbeitskraft ist.
Was letztlich
vom Einzigen übrig bleibt, ist nur die von Stirner in Buchform vorgezeichnete
Bewusstseinsstruktur des Mittelstandes […], die konstante Bereitschaft
zur Empörung. […] Die permanente Revolution aus der Mitte ist die
statistisch gebündelte und straff organisierte Empörung der einzelnen
Mittelständler. (S. 176f.) Dabei ist es Stirner selbst äußerst wichtig
gewesen, dass die Leser ja nicht Revolution und Empörung verwechseln:
Revolution
und Empörung dürfen nicht für gleichbedeutend angesehen werden.
Jene besteht in einer Umwälzung der Zustände, des bestehenden Zustandes
oder status, des Staats oder der Gesellschaft, ist mithin eine politische
oder soziale Tat; diese hat zwar eine Umwandlung der Zustände zur unvermeidlichen
Folge, geht aber nicht von ihr, sondern von der Unzufriedenheit der Menschen
mit sich aus, ist nicht eine Schilderhebung, sondern eine Erhebung der
Einzelnen, ein Emporkommen, ohne Rücksicht auf die Einrichtungen,
welche daraus entspriessen. Die Revolution zielte auf neue Einrichtungen,
die Empörung führt dahin, Uns nicht mehr einrichten zu lassen, sondern
Uns selbst einzurichten, und setzt auf »Institutionen« keine glänzende
Hoffnung. Sie ist kein Kampf gegen das Bestehende, da, wenn sie gedeiht,
das Bestehende von selbst zusammenstürzt, sie ist nur ein Herausarbeiten
Meiner aus dem Bestehenden. (53)
Somit ist
der Akt der Empörung Selbsttherapie und Aufstiegssehnsucht in einem.
Empörung ist eine Untertanentugend [und] Stirner lehrte die Einzigen,
sich zu empören, heißt es bei Helms. (S. 21) Laut Marx ist die Empörung
schlicht die Aufkündigung des Respekts gegen das Heilige. (54) Sie ist
also scheinbar sündhafter Trotz, der sich in sich selbst gefällt, und
damit ein gutes Stück weit entfernt, von dem absoluten Gehorsam, welcher
oftmals irrtümlich als Grundtugend des Kleinbürgers gesehen wird.
Psychoanalytisch wäre Stirner der Philosoph des schwachen Ichs, der
gegen das nie recht internalisierte Über-Ich pöbelt und sein kaum vorhandenes
Ich diskursiv (55) oder auch tätlich erhöhen muss:
Da nun
nicht der Umsturz eines Bestehenden mein Zweck ist, sondern meine Erhebung
darüber, so ist meine Absicht und Tat keine politische oder soziale,
sondern, als allein auf Mich und meine Eigenheit gerichtet, eine egoistische.
Einrichtungen zu machen gebietet die Revolution, sich auf- oder emporzurichten
heischt die Empörung.
Die Empörung
ist also permanent vorrevolutionär, darin der verewigten Vorlust
der Vorfreude sehr ähnlich, und sich dabei noch radikal gebärend. (56)
In einer Fußnote geht der große Empörer jedoch lieber auf Nummer sicher:
Um Mich
gegen eine Kriminalklage zu sichern, bemerke Ich zum Überfluss ausdrücklich,
dass Ich das Wort Empörung wegen seines etymologischen Sinnes wähle,
also nicht in dem beschränkten Sinne gebrauche, welcher vom Strafgesetzbuche
verpönt ist.
Empörung
war im Strafgesetzbuch ein Aufruhr. Der Aufruf zu diesem hätte ihm die
Verfolgung einbringen können, welche seine Anhänger immer wieder als
reelle versucht haben anzuführen, die es aber faktisch nie gab. Geistiger
Taschenspieler, der er nun einmal auf ganzer Linie ist, verrät er natürlich
nicht, welcher diese etymologische Sinn denn nun sein möge. In anderen
Fällen seiner (Privat-)Etymologie, wie sie später Heidegger noch mehr
in den Fokus rücken wird, ist Stirner etwas offener: heimlich gerinnt
ihm über heimisch zu eigenem sowie das Heilige über unantastbar zum
Fremden. Gegenüber stehen sich dann beispielsweise Eigentum und Fremdentum.
(57) Da er den Aufstand schon aus justiziablen Gründen nicht meinen
darf – und doch auf seine verquere, heißt individuelle und untergründige
Weise meint –, geht es also um das Wörtchen empor, d.h. hinauf und aufwärts
will der Einzige. (58)
Dies ist in
sehr vulgärer Form nur einer der drei Teile der hegelschen Aufhebung
aus verneinen, bewahren, auf eine höhere Stufe heben (tollere, conservare,
elevare) bzw. geht dem eine abstrakte, unbestimmte Negation alles
Abstrakten voran. Eben dadurch jedoch wird er zum unreflektiertesten
Konservator, in den Worten von Marx: Revolution = Umsturz des Bestehenden,
Empörung = Bestehen des Umsturzes. (59) Zum Zwecke des Aufstiegs wäre
hinzufügen. Der Aufstieg in Permanenz ist selbst das Ziel, Transzendentes
und Versöhnung hingegen das erklärte Feindobjekt. Der Einzige namens
Stirner will hinauf zur Empore. Die späteren Wolkenkratzer wären tatsächlich
die perfekte Verdinglichung seines Vereins gewesen, sofern er nur
oben stünde. Nicht ohne Grund war es der biblische Nimrod – der sich Empörende
und der Erste, der Macht gewann auf Erden. (1.Mose 10,8), welcher den Turmbau
zu Babel befahl. Der jetzige Mensch mit seinen Bedürfnissen sei das
Maß der Empörung, denn schließlich sei er schon gottesgleich. Der natürlichen
Furcht zum Gegenpart baut Stirner die ganz und gar künstliche Ehrfurcht
auf.
Hier wird
nicht bloss gefürchtet, sondern auch geehrt: das Gefürchtete ist zu
einer innerlichen Macht geworden, der Ich Mich nicht mehr entziehen
kann; Ich ehre dasselbe, bin davon eingenommen, ihm zugetan und angehörig:
durch die Ehre, welche Ich ihm zolle, bin Ich vollständig in seiner Gewalt,
und versuche die Befreiung nicht einmal mehr. Nun hänge ich mit der ganzen
Kraft des Glaubens daran, Ich glaube. […] Der Mensch ist nun nicht mehr
schaffend, sondern lernend (wissend, forschend usw.), d.h. beschäftigt
mit einem festen Gegenstande, sich vertiefend in ihn, ohne Rückkehr zu
sich selber. Das Verhältnis zu diesem Gegenstande ist das des Wissens,
des Ergründens und Begründens usw., nicht das des Auflösens (Abschaffens
usw.). (60)
Was Stirner
hier als Ehrfurcht beschreibt ist nur die Erhöhung und Verallgemeinerung
der individuellen Beschränkung des eigenen Intellekts, der nicht
willens ist beispielsweise auch nur irgendeine Sachautorität anzuerkennen
– was Voraussetzung wäre, um von ihr zu lernen und sie eventuell irgendwann
zu überschreiten. (61) Es ist somit kein Wunder, dass Stirner und sein
Einziger zum (teils ungewussten) Vorbild aller plumpen Antiautoritären
avancierte – die zuerst den Bullen in ihrem Kopf töten mussten, bevor
sie begannen, auf echte zu schießen. Dabei ist seine Konzeption der Ehrfurcht
Ausdruck seiner eigenen Borderlinephilosophie, die beständig zwischen
Idealisierung und Verachtung schwankt, da erstere jedoch den Einzigen
in die Schranken weisen könnte, sich sehr verlässlich immer für die Verachtung
alles als Heilig erhöhten entscheidet. Schaffend gerinnt ihm automatisch
zu abschaffend, und dies offenbart seine Empörung als individuellen
und dauerhaften Weltenbrand, der in der Zerstörung eher psychohygienische
Funktion erfüllt.
Die Feuerbachthese
im Sinne Stirners lautete dann: Es kommt nicht darauf die Welt zu verstehen,
um sie zu ändern, es kommt darauf an, sie zugrunde zu richten, ohne
dabei einen Gedanken an sie zu verlieren, der dem Ich in seiner Beschränktheit
unangenehm sein könnte. Von dem frühautonomen Ich als Maß ausgehend,
kann auch der Staat nur Beschränkung der Enthemmung sein und steht
schlichtweg im Wege. Der sich daraus speisende Hass auf den Staat hat
Stirner für zahlreiche Beschränkte wahnsinnig attraktiv erscheinen
lassen. Der bürgerliche Staat ist jedoch gegen jede Kritik zu verteidigen,
deren Motiv dem Folgenden ähnelt:
Der Staat
lässt nicht zu, dass mal Mann an Mann aneinander gerate; er widersetzt
sich dem Zweikampf. Selbst jede Prügelei, zu der doch keiner der Kämpfenden
die Polizei ruft, wird gestraft, es sei denn, dass nicht ein Ich auf ein
Du losprügele, sondern etwa ein Familienhaupt auf das Kind: die Familie
ist berechtigt, und in ihrem Namen der Vater, Ich als Einziger bin es
nicht. (62)
Es geht
ihm also keineswegs darum, häusliche Gewalt zu verbieten, sondern sie
zu verallgemeinern. Von seiner unterstellt konsensualen Rauferei
kommt er über das mit Sicherheit ohne Einstimmung verprügelte Kind wieder
zurück zu sich und seinem Recht auf Gewalt gegen alles und jeden, die Gewalt
über Leben und Tod. (63) Dass es ihm um einen sportlichen Boxkampf nach Reglement,
wie es zeitgleich zu seiner Schrift in England eingeführt wurde, gegangen
ist, darf wohl getrost verneint werden. Es geht ihm um den Straßenkampf,
der Eigentum und Beute einbringt. Doch selbst wenn, würde es nur seinen
beschränkten deutschen Blick beweisen, da hier der Boxsport bis lange
nach seinem Tod verboten war. Insbesondere auch seine Empörung über
Duellverbote (64) zeigt, dass sein Verein vielmehr eine auf die Straße
getragene Nachbildung der schlagenden Verbindung ist.
Damit dürfte
auch geklärt sein, wie der Einzige emporzukommen gedachte, falls
sein infantiles Schreien nicht mehr genügt. (65) Wenn Marx schreibt,
dass für Stirner der Staat, der natürlich in Preußen und in Nordamerika
derselbe ist, abgeschafft werden muß (66), stimmt dies nur bedingt,
denn mit der Staat hingegen ist immer der preußische Staat gemeint, den
er anderen, welche er nicht Staaten nennt, sondern als Regionen beschreibt,
durch allerlei Faktendreherei gegenüberstellt. (67) Weiter als sein
begrenztes Umfeld reicht sein Blick in dem meisten Fällen schlichtweg
nicht. Erst die an Stirner erlernte Staatsfeindschaft… (S. 45) führte
den Mittelstand in die Bewegung und die beiden deutschen Generalempörungen,
die immer masochistisch waren. Statt Gehorsam ist die deutsche Tugend
vielmehr Empörung aus Unterwürfigkeit oder Unterwerfung, die mit
einem enormen Strafverlangen und -bedürfnis einhergeht. Dieser Masochismus
ist Ausdruck der Subjektsehnsucht, während der Sadismus de Sades – mit
dem Stirner oftmals in eine Linie gestellt wird (68), vielmehr für den
Vorrang des Objekts einsteht. Im literarischen Masochismus (Sacher-Masoch)
regelt der Vertrag das Prügeln und Misshandeln, man sichert sich ab,
während der belletristische Sadismus zumindest offen artikuliert,
dass es ihm um das Verbrechen als Kritik geht. De Sade schrieb gegen Voltaire
und Rousseau gleichermaßen. Meist nur unter dem Aspekt der Verletzung
des Sittlichen – in Stirners Worten des Heiligen – betrachtet, galt
ihm viel mehr: Das einzige wirkliche Verbrechen wäre es, die Natur zu
beleidigen. Dabei wusste er von der Unmöglichkeit dessen und nannte
es die schlimmste Qual des Menschen. Die stirnersche Empörung ist verletzter
Stolz, während de Sade den Stolz selbst angreift.
Helms historische
Betrachtung bricht um 1957 mit einer kurzen Betrachtung des Existentialismus
ab, er nimmt sie jedoch in seinem späteren Essayband Fetisch Revolution
im Jahre 1969 wieder auf. Ernst wie es ihm war, gab er 1968 vorerst die gesammelten
Schriften Stirners heraus, die entgegen gewissen Kritiken gerade
in ihrer tendenziösen Kürzung das Wesen dieser Philosophie sehr gut
erfasst, und mit einem ausführlichen Nachwort versehen waren. Makabererweise
hatte er jedoch mit dieser Veröffentlichung zumindest Anteil an
einer neuen Stirner-Welle, gegen die er sich mit Fetisch Revolution
sofort wendete, in welchem er eine der frühsten Kritiken der Studentenbewegung
verfasste – jener dritten, nicht mehr nur in Deutschland stattfindenden,
aber in weiten Teilen trotzdem sehr deutschen Generalempörung, die
nun als große Verweigerung (Marcuse) auf den Plan trat. Ein SDS-Sprecher
durfte damals im Spiegel antworten: Eine Kritik, die sich vor dem Engagement
hütet, kann selbst wieder zur Bekämpfung sozialistischer Bestrebungen
genutzt werden. Unter der Hand gerinnt sie dem Spätliberalen zur Rechtfertigungsideologie
der bestehenden Gesellschaft. (69) Spätestens hier ist die Empörung
also im Engagement aufgegangen. Helms hatte sich die Frage gestellt,
ob die Linksradikalen überhaupt zur Reflexion ihrer gesellschaftlichen
Lage und somit zum Übergang auf politisch relevante Positionen fähig
sind oder ob sie in einer politisch irrelevanten Protesthaltung erstarren
werden, die graduell privatisiert werden kann und zur Adaption an
die bestehende Klassenherrschaft führen muss. (70) In eben jener besprochenen
Schrift hat der Spätliberale noch einmal gezeigt, dass die fehlende
Staatskritik der Kritischen Theorie kein blinder Fleck ist, sondern
dass vielmehr in Zeiten, in denen es keinerlei Anzeichen einer revolutionären
Stimmung gäbe, Studenten aber versuchten, die kritische Theorie in politische
Aktion umzusetzen, der neue Linksradikalismus den wirklichen Klassenfeind,
die Bourgeoisie, [nur] durch den Ersatzklassenfeind Staat sublimierte.
(71)
Übersetzt
heißt dies: die Ersetzung der Kritik der politischen Ökonomie durch
Raufereien mit dem Staat ist ideologischer Ausdruck dessen, dass die
Kritiker selbst ihre berufliche Zukunft schon nur noch beim Staat bzw.
in angeschlossenen Stiftungen und Instituten sehen, aber ahnen, dass
dieser nicht länger die Mittel aufbringen könnte, um sie zu finanzieren.
Er zeigte, dass der Anti-Etatismus der neuen Linken nicht die notwendige
Kritik des rechten und altlinken Etatismus war. Viel eher wäre es wohl
angebracht von einer notwendig enttäuschten Erwartungshaltung zu
sprechen, die sich schließlich auch an den USA und vor allem Israel noch
einmal wiederholte, nachdem einige Zeit auf die amerikanische Kulturindustrie
und die israelische Kibuzzim-Bewegung alle Hoffnung projiziert worden
waren. Und eben dies führt zum heiligen Max von Marx und Engels, die schon
gegen Stirner einwandten, dass er sich aber an den Staat als einen Arbeitgeber
wendet und Besoldung, d.h. Arbeitslohn verlangt. (72) Zumindest ein
Hauptanlass der studentischen Proteste war ein erstes kurzes Stocken
des Wirtschaftswunders in Form einer kleinen Rezession inklusive
Bildungsnotstand. (73) Alles begann also schon als verkappter Interessenkampf
und erfolgreich erpresst haben sie den Staat letztlich vor allem um das
Bafög – eine wenigstens damals noch 100%ige Beute, auf die man nun sogar
einen Rechtsanspruch hatte. (74)
Nach Marx
erklärt sich sowohl das anderwärts nie vorkommende redliche Beamtenbewusstsein
wie die sämtlichen in Deutschland kursierenden Illusionen über den
Staat (MEW 3, 178) aus der spezifischen historischen Situation,
einer Übergangsstufe – in Deutschland bis heute, in der die Verwaltung
und mit ihr der Staat eine eine abnorme Unabhängigkeit erhielt. Uli
Krug hat auf eine fehlgeleitete Bedingung von Marx’ Revolutionstheorie
wie der gesamten Philosophiekritik hingewiesen – nämlich die Vorstellung,
dass niemand sich ernsthaft daranmachen könnte, diese Illusionen
über den Staat in ein tatsächlich staatliches Programm umzusetzen –
was aber bekanntlich geschehen sollte (75) und zwar in Deutschland. Die
Kritik des Anti-Etatismus beruht deshalb auch darauf, dass dieser
eben selbst durch und durch etatistisch, deutsch-sozialistisch ist. Steinewerfer,
die sich recht rasch mit Ministerposten abspeisen ließen wie Joschka
Fischer, sind nur allzu deutliches Symptom dessen, was sich in den letzten
50 Jahren seit 1968 immer wieder vollzogen hat. Das neuste, diesmal politisch
korrekte Deutsche Reich namens Europäische Union hat Stirner schon affirmativ
vorgezeichnet mit seinem Entwurf des deutschen Föderativkörpers
(S. 177ff). Deutschland, da in der Mitte Europas liegend, sei der Mittler,
südeuropäische Länder hingegen als Protektorate anzugliedern,
und über die Randvölker hegemonial zu verfügen, wobei Russland ausgeschlossen
wird: Ist Europa ins deutsche Mutterreich zurückgekehrt, werde es ein
gedeihliches urdeutsches Erwerbsleben geben. (S. 179) (76)
Deutschland
ist in diesem Sinne wirklich der Einzige Stirners in Staatsform. So
stört es hierzulande niemanden auf Kosten der US-Verschuldung zu
leben und Schulden abzubauen. Germany first, aber subtil ist
seit Jahren Staatsräson der BRD (77) und die Wahl Trumps ist deshalb die
– zugegebener Weise recht unappetitliche – Kritik der, von Stirner
in seiner Schrift Die Deutschen im Osten Deutschlands angedeuteten,
globalisierten deutschen Ideologie Das deutsche Volk ist ein universales
Volk. Zum Empörungsgrund wird die Schuldenbremse erst, wenn die Sparmaßnahmen
an den eigenen Aufstiegsmöglichkeiten im Staat rütteln bzw. der Staat
seiner auf ihn projizierten Mutterrolle nicht mehr nachkommt. (78)
Dass die vehementesten Staatskritiker zumindest vermittelt für den
Staat arbeiten, und/oder die Kirchenkritiker für die Diakonie wird
erst richtig zur Farce, wenn sie selbst nicht wahrhaben können, in was
für einer schizophrenen Situation sie sich befinden. Wobei diese
Farce nicht wirklich lustig ist, denn die (linke) Staatsfeindschaft meint
die Auflösung des Staates in Vereine/Stiftungen/Programme, also Rackets
der öffentlichen Hand. Staatskritik ist Arbeitskampf, als Interessenkampf
innerhalb einer Klasse um die Jobs als Subunternehmer für den Staat.
Die Ideologie und ihre Ausformungen sind dabei für diese Leute notwendig
falsches Bewusstsein und Produktionsmittel in einem, was der Autor
der Schrift Empört Euch!, ohne es zu wissen, sehr deutlich aussprach,
als er die Berufsempörten und -empörer adressierte: Ich wünsche
jedem Einzelnen von Ihnen ein eigenes Empörungsmotiv. Denn das ist
kostbar. (79) Stirner setzte die Empörung als Geschäftsmodell, das
nur mit einer ideologischen Hohlform besetzt und vermarktet werden
muss, damit man hinaufgelangt oder zumindest nicht hinabfällt zum
Pöbel und Gesocks, über den/das man zu verfügen gedenkt.
Auch Helms
arbeitete seit 1957 im weiteren Sinne für den Staat (80), nämlich beim
WDR, nachdem er vorher schon für Militärsender in Wien und Salzburg
tätig war. In einer Diskussionsrunde im WDR kam er 1971 noch einmal
hautnah mit der Empörung eines typisch deutschen Mittelständlers in
Berührung. Der als Vertretung für den erkrankten Rio Reiser in die Sendung
geschickte Manager von Ton Steine Scherben (81) und vormalige
Steuerberater Nikel Pallat, versuchte dort getreu dem Motto der Band
Macht kaputt, was euch kaputt macht mit einem mitgebrachten Handbeil
den Tisch zu zertrümmern, da man schließlich parteiisch sein müsse. Wäre
er auch nur fähig gewesen, zuzuhören, hätten ihm die beiden Intellektuellen,
einer davon Helms, erklären können, dass die Wahrheit von Kunst nicht in
einer Botschaft liegt, und er auch keine Volksmusik macht, so sehr er sich
das auch einzureden versucht, sondern schlicht Teil der Kulturindustrie
ist. Von einem Arbeiter hätte er hingegen lernen können, wie man eine
Axt benutzt oder, dass man sogar ein ganz anderes Werkzeug hätte verwenden
müssen. Obwohl dieser ihn vermutlich völlig zu Recht gefragt hätte,
wieso ein Tisch ihn denn kaputt mache. Letztlich war es auch ein kleinbürgerlicher
Zuschauer, der die Reparaturkosten übernahm, damit Pallat keine Honorarkürzungen
zu befürchten hatte. Die Begründung des für die Empörung zahlenden
Apothekers lautete damals: Wir müssen lernen, Leute wie Pallat zu tolerieren.
Empörung und die Forderung nach Toleranz haben sich seit eh und je wunderbar
vertragen – sie sind zwei Seiten derselben Medaille.
Helms späteren
ideologiekritischen Studien widmeten sich vor allen den Auswirkungen
der neuen Produktivkräfte und der Automation. Dabei hat er, der sich
immer sehr stark auf Feldforschung stützte, niemals eine dieser absurden
Finalkrisentheorien entwickelt. (82) Er zog schließlich in die USA,
nachdem der dilettierende Philosoph (83), wie man ihn im Spiegel damals
noch schimpfte, von der Universität Bremen veranlasst wurde, seine beiden
Schriften Die Ideologie der anonymen Gesellschaft und Fetisch
Revolution einzureichen, für die er einen Doktorgrad erhielt.
Auf eine Berufung verzichtete er, hatte später aber Gastprofessuren
außerhalb von Deutschland inne. 1989 kehrte er nach Deutschland zurück.
Helms ging es darum, das Grauen auf der Höhe der Zeit zu ergründen: Konsequent
ist Stirner der erste Philosoph der Eigentlichkeit, die seither über
Heidegger, Jaspers und den Existentialismus zum primitivsten,
nichtssagenden Gemeinplatz der mittelständischen Ideologie geworden
ist. (S. 95) Ein paar Worte zu einer weiteren Verlaufsform dieser Traditionslinie
seien noch erlaubt, denn Hessel und seine Schrift Empört Euch! gingen
bei Sartre in die Schule: Wenn etwas Sie empört, wie mich der Nazismus
empörte, werden Sie militant, stark und engagiert. (84)
Zum Nachleben Stirners in der existenziellen
Ideologiekritik
Als nuancierteste
Vertreter der Sartre-Schule müssen wohl die ehemaligen Ideologiekritiker
aus Wien mit Zweig- und Distributionsstelle in Freiburg gelten, die
die absolute Freiheit, die Leibhaftigkeit, das angeblich um Politik
gereinigte Engagement und zahlreiche weitere grundsätzliche Sonderheiten
neuentdeckten, und seitdem gehörige akademische Lobbyarbeit in
diese Richtung betreiben. In der Einleitung zum Sammelband gegen die
Gegenaufklärung beispielsweise wird das Vorgehen folgendermaßen
erläutert: Auszugehen ist dabei von Marx’ Replik auf Stirner (und
Bauer und Feuerbach), fortzuschreiten über Adornos Heidegger-Kritik
bis hin zur Bestimmung dessen, was heute als deutsch gelten muss. […] Es
handelt sich nicht darum, willkürlich einen Zusammenhang herzustellen,
der in Wahrheit gar nicht existiert. (85) Dies machen sie dann auch nicht,
nur vergessen sie gemäß der neuen Doktrin einen, der in Wahrheit und Wirklichkeit
existiert, denn die erste Welle des verkappten Stirnerianismus begann
unmittelbar nach Kriegsende und kam aus Frankreich. (S. 495)
Gemeint
sind jedoch nicht die zahlreichen Stränge von Strukturalismus, Poststrukturalismus
und Dekonstruktion, sondern der Existenzialismus um Jean-Paul Sartre.
Insbesondere Mario Rossi hat die Traditionslinie Stirner-Heidegger-Sartre
aufgezeigt. (86) Aber auch Marcuse hat den Zusammenhang in seiner
Existentialismus-Kritik von 1948/1950 beinahe zu greifen bekommen.
Dort schreibt er über Sein und Nichts: Sartres Buch ist in weiten Teilen
ein Rückgriff auf Hegels Phänomenologie des Geistes und Heideggers
Sein und Zeit (87). Etwas später hat er, leider ohne es rückzubeziehen,
genau das Mittelglied zwischen Hegel und Heidegger, bei welchem Sartre
schließlich auch landen wird, zumindest erwähnt, denn Sartres Für-sich
ist Stirners Der Einzige und sein Eigentum näher als dem Cogito
Descartes. (88) Sartre, um dies schon einmal vorwegzunehmen, ist ein
nur angeheideggerter Junghegelianer à la Stirner. Der Bezug auf
Freiheit und/oder Einzigkeit sind nur Verlaufsformen, wie der Lebenslauf
des Berliner Max Stirner zeigt, der zuerst Mitglied der Freien zum Stifter
der Einzigen avancierte. Auch Sartre ging nach Berlin (1933-1934), ließ
sich von der aktuellen Politik nicht weiter beeindrucken und las Heidegger.
Unter deutscher Besatzung konnte er sein Hauptwerk Das Sein und das
Nichts ohne Probleme veröffentlichen. Wie bei Stirner sind es vor
allem die unzähligen Hohlformen, die das Werk so kompatibel machen
für jegliche politische Situation und es zeigt sich, dass der existenzialistische
Lebensentwurf charakterisiert durch Bewusstsein und Auflehnung
nicht so verschieden ist von jenem, der den Einzigen und seine Empörung
auszeichnet.
Marcuse
ist bei der Sartre-Lektüre derselbe Trick aufgefallen, der bei Stirner
schon zu vermerken war: Der Ausdruck Für-sich umfasst das Wir sowohl wie
das Ich; es ist das kollektive so gut wie das individuelle Selbstbewusstsein.
(89) Deshalb gelangt der Sartre der Kritik der dialektischen Vernunft
auch zur Gruppe sowie zur Gewalt als maßgebliche Bausteine seiner Konzeptionen.
Die Gewaltverherrlichung in Sartres Fanon-Vorwort ist kein Ausrutscher,
es ist die konservierte Empörung Stirners. (90) Martin Dornis hält
für den Sammelband zur Deutschen Ideologie erst fest: Es lässt sich Heideggers
Ontologie nicht einfach vom Kopf auf die Füße stellen, um dann eine
Seite später fortzufahren, dass Sartre kein deutscher Ideologe war,
dafür hat er seinen Heidegger dann doch zu sehr von den Füßen auf den Kopf
gestellt. (91) Das Subjekt durchgestrichen hätten erst die Poststrukturalisten
– als ginge es nur darum. Bezüglich Heidegger, der sich nicht auf die
Füße stellen lässt, weil er auf diesen anscheinend schon stand, damit
Sartre ihn wieder auf den Kopf stellen konnte (Oder lag er?) heißt es nun
weiter: Heideggers Sein ist der Wert. (92) Auf der nächsten Seite ist das
Sein dann schon die negative Aufhebung des Werts auf seiner eigenen
Grundlage. Dies mag wahnsinnig clever klingen, ist jedoch nicht exakt
der Nationalsozialismus in Theorieform gegossen, sondern wenn
diese Formulierung irgendetwas bedeuten soll, dann beschreibt sie
das Kapital, also die Zersetzung der Gemeinwesen, Produktion für
den Tausch, Mehrwertproduktion und damit vor allem (neue Formen der)
Ausbeutung. Diese negative Aufhebung des Werts auf seiner eigenen
Grundlage wäre also höchstens der radikale Bruch in der Realgeschichte
des Werts selbst (Thomas Maul), meint: Ausbeutung auf Grundlage des Äquivalententauschs
oder: sich selbst verwertender Wert.
Was Dornis
ab- oder nachschreiben wollte, steht in richtiger Formulierung bei
Clemens Nachtmann, dem es um die negative Aufhebung des Kapitals auf
seiner eigenen Grundlage geht. Deren conditio sine qua non hingegen
ist die Verüberflüssigung des gesellschaftlichen Humankapitals in
permanenter Krisenform. (93) Mit viel gutem Willen wäre das Geschwurbel
von Dornis also so zu verstehen: Heideggers Sein ist das in permanente
Krise geratene Kapital, welches massenweise überflüssige Arbeitskraft
freistellt. Wenn nun Sartre darüber gerettet werden soll, dass er angeblich
in wesentlichen Punkten explizit gegen Heidegger argumentierte,
hilft dies nicht sonderlich weiter, da er damit gegen einen Wahn argumentierte,
was für gewöhnlich eben nur selbst Wahnsinnige tun. Gegen Heideggers
Sein komme bei Sartre als zentraler Begriff das Nichts ins Spiel, das
sich grob auf Formel bringen lässt: Es gibt keine Natur des Menschen, die
den Menschen festlegt, sondern der Mensch ist das, wozu er sich macht. Die
Einzelnen sind nun plötzlich fähig sich aus dem Zusammenhang des Seienden
zu lösen. Nein zu sagen, ermögliche Freiheit. (94)
Bei Sartre
selbst liest sich das meist folgendermaßen: Das Sein, durch das das
Nichts in die Welt kommt, ist ein Sein, dem es in seinem Sein um das Nichts
des Seins geht: das Sein, durch das das Nichts in die Welt gelangt, muss
sein eigenes Nichts sein. Kürzer schreibt er über das Sein, das ist, was
es nicht ist, und nicht ist, was es ist. Wer diesen Schwachsinn nicht versteht,
möge sich wahrlich nicht schämen, denn ein Großteil des Werkes Sartres
bewegt sich eher auf einer psychischen Ebene. Anders formuliert: Schon
Heidegger kannte keinen Hunger. Die Nichtung des Hungers ist bei Sartre
nun nicht einfach Essen, sondern die Entscheidung für die Möglichkeit
des Essens, also bin ich als Hungriger bereits satt: Ich bin zugleich
mein Hunger und in Situation gegenüber meinem Hunger, ich bin ein
überschrittener Hunger. (95) Das unterschwellige Motto des Existenzialismus
lautet demnach: Hunger im Bauch, Freiheit im Herzen! Die Missachtung
der Ökonomie im Werk Sartres ist keinesfalls einfach zu korrigieren,
denn sie umfasst die Missachtung des stummen Zwangs, und ist konstitutiv
für diesen Wahnsinn.
Dass Hunger
kein Grund zur Produktion ist, heißt aber nicht, dass er nicht sehr wohl
der Hauptgrund zur Arbeit ist. Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt,
statt zum Hunger, denn der Mensch ist nichts anderes als sein
Entwurf; er existiert nur in dem Maße, als er sich entfaltet. Dass es
eventuell einen kleinen Unterschied zwischen einem Entwurf und dessen
Entfaltung bzw. Verwirklichung geben könnte, kommt dieser Lebensphilosophie
selbstverständlich nicht in den Sinn, da es der Entgrenzung der Wirklichkeit,
welche der stirnerschen Enthemmung allzu verwandt ist, nur im Wege stünde:
Möglichkeit und Wirklichkeit fallen immer zusammen. (96) Die postulierte
absolute Freiheit aus dem Nichts ist Leugnung von Hunger und Ausbeutung,
Angebot und Nachfrage sowie letztlich der Tauschgesellschaft. Marxens
Formulierung nach der der Arbeiter frei ist die Arbeitskraft zu verkaufen
und somit Lohn zu erhalten, der grob dem Wert der Ware Arbeitskraft entspricht,
heißt jedoch eben auch frei jeglichen Rechts zu sein, dass diese Arbeitskraft
auch tatsächlich gekauft wird. Sartres Nichts ist keinesfalls die Negation
oder gar das Nichtidentische, sondern bloß die doppelte Freiheit des
Mittelstandes/Kleinbürgers, sprich die überflüssige/unproduktive
Arbeitskraft – also eine Arbeitslosigkeit, die sich schon für faktischen
Lohn hält. Die Existenz geht dem Wesen/der Essenz voraus, lautet einer
der berühmteren Sätze Sartres, womit er wie Stirner meint, die potentielle
Existenz sei eigentlich schon das Wesen.
Ein anderer
Engagierter hat es dagegen sehr viel konkreter und wahrer ausgedrückt:
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Dass Sartre hingegen 1942
am Pariser Lycée Condorcet wissentlich eine entjudete Stelle (97) annahm,
nachdem er seine Widerstandstruppe selbst aufgelöst hatte, zeigt vor
allem eines über den großen Moralapostel: er empörte sich in einem
durchaus stirnerschen Sinne – nämlich ohne Rücksicht auf Verluste anderer
Leute. Sartres Philosophie ist nur Abklatsch der negativen Aufhebung
der Lohnarbeit. Aus Not wird Tugend, denn ein Herr Sartre leidet nicht,
er ist engagiert im Leiden – statt zu hungern, fastet er, hungert also
bewusst – ein diskursiver Trick, den schon der ehrenwerte Prophet Mohammed
beherrschte, wenn man den alten Quellen glauben darf. Sartres angebliches
Auf-den-Kopf-stellen Heideggers (98) ist nur die Rückkehr zu Stirner, ob
bewusst (99) oder bewusstlos ist dabei völlig nebensächlich. Wobei er
jedoch genug von Heidegger mitschliff. Sartres Bezug auf den Hunger,
den man akzeptieren könne oder nicht, hat Marx schon an Stirner bloßgestellt.
Über den stolzen Eigentümer seines Nicht-Eigentums schrieb Marx an Engels:
Wenn er Hungers stürbe, stürbe er nicht durch Mangel an Lebensmitteln,
sondern durch sein Eigentum: das Verhungernkönnen … Die Freiheit Sartres
ist nur noch jene Möglichkeit, ganz ungestört – zu verhungern. (100)
Auch Sartre hat sein Sach’ auf Nichts gestellt. Charaktertypen dieser
Art hat Karl Kraus in Hüben und Drüben beschrieben und selbst sprechen
lassen: Denn viele, nicht alle können, ganz wie im Bürgerstaat, Beamte
sein; die andern haben nur den Glauben, aber keine Hoffnung auf einen Fortschritt,
[…] Uns kann nix gschehn: denn wir würden es uns gefallen lassen. Dem wackern
Horatio vergleichbar, dem nachgerühmt wird, er sei der Mann, der nichts
erlitt, indem er alles litt. Aus Sein zum Tode wird Sein zum Leid. Genau
dies ist aber nur eine andere Erscheinungsform des Masochismus, der
sich zwangsläufig in der Gewalt entladen muss, die Sartre wenig später
zu propagieren begann.
Schon Stirners
Ich und der Einzige meinen unterschwellig die juristische Person
(101) – das Individuum als Rechtssubjekt, die längst nur noch die Organisation
bzw. Personenvereinigung meint – was ihm mit dem Verein dann auch hereinrutschte
– und gerade deshalb ist sein scheinbar konkretes Ich das unpersönlichste,
abstrakteste: Der Mensch ist ja keine Person, sondern ein Ideal, ein
Spuk. (102) Bzw: Die Person ist ihr widerlich, weil sie egoistisch, weil
sie nicht der Mensch, diese Idee, ist. (103) Stirner ist dabei konsequent
vorjuristisch. Bei ihm heißt es unter anderem: Meine Macht ist mein Eigentum.
Meine Macht gibt Mir Eigentum. Meine Macht bin Ich selbst und bin durch sie
mein Eigentum. (104) Und genau über solche Vorstellungen schrieb Paschukanis:
Die Verbindung des Menschen mit dem von ihm selbst produzierten oder eroberten
oder gleichsam einen Teil seiner Persönlichkeit bildenden Ding ist
ohne Zweifel historisch ein Element in der Entwicklung des Privateigentums.
Sie stellt dessen ursprüngliche und beschränkte Form dar. (105)
Der Heilige
Krieg gegen das heilige Signalwort der Mensch wird jedoch von anderen
weitergeführt. Man lese von der Redaktion der Pólemos: Die
Würde des Menschen ist unantastbar – die Würde einer Abstraktion
also; Pech also für die Menschen, die hierher flüchten, wenn sie es
aus oder über sichere Drittstaaten tun, und dabei niemals als der Mensch
als solcher kommen, sondern nur als leibliche, konkrete Einzelne.
(106) Das ist eine derartige Banalität, die direkt von Stirner stammen
könnte, denn des Menschen, heißt jedes Menschen, heißt jedes einzelnen
konkreten, leiblichen Menschen. Grammatikalisch ist der Mensch
schlicht ein Kollektivsingular. Letzteres ist schon ein Produkt der
Aufklärung, wie zahlreiche Historiker unter anderem am Begriff die
Geschichte nachgewiesen haben. Somit ist der Mensch im Recht ein konkreter
Begriff als Gattungsbegriff. Die Feindschaft gegen die Abstraktion
sollte jedoch nicht vergessen machen, dass Denken selbst abstrahieren
ist und es kleine Unterschiede beispielsweise zwischen Formal- und
Realabstraktion gibt. Als wäre das Problem nicht eher die Bestimmung
der Würde (107), welche ihren Auftrag und ihr durchaus materialistisches
Versprechen verliert, wenn sie in einen juristischen Begriff gezwängt
wird. Während jedoch der Mensch zumindest darauf verweist, dass
es um ein paar mehr Menschen geht, die in Beziehung zueinanderstehen,
ist der Einzige, der nackte quälbare Leib, der Einzelne, also der Unvergleichliche,
nur ebenso abstrakter Platzhalter, der aber verlangt, sich als Ich einzusetzen,
ihn einsam und allein zu füllen, fällt also weit hinter die erste Abstraktion
zurück, die auf jeden zielt. (108) Die Hypostasierung des Einzelnen gegenüber
dem Menschen ist letztlich nur die diskursive Setzung der konkreten
gegen die abstrakte Arbeit, was durchaus konsequent ist, denn auch die
Urwahl und Entscheidung Sartres trägt schon den Charakter der Studien-
oder Berufswahl.
Das Einzelne
ist mehr sowohl wie weniger als seine allgemeine Bestimmung. (109)
Den Rest lese man in den Zeilen bzw. Seiten um den Satz herum; nur ein Hinweis
sei noch erlaubt: Dialektik läuft, ihrer subjektiven Seite nach, darauf
hinaus, so zu denken, dass nicht länger die Form des Denkens seine Gegenstände
zu unveränderlichen, sich selbst gleichbleibenden macht; dass sie das
seien, widerlegt Erfahrung. […] Die Wendung zum Nichtidentischen bewährt
sich in ihrer Durchführung; bliebe sie Deklaration, so nähme sie sich
zurück. (110) Auch der Platzhalter namens Leib ist eine solche Deklaration
in Zeiten, in denen Klaus Theweleit mit einigem Recht schon nur noch vom
Körperpanzer spricht. Der Leib fungiert hingegen als scheinbar letztes,
unverlierbares Eigentum, an das man sich klammert. Beim zeitweiligen
Sartre-Kameraden Merleau-Ponty wird dies sehr viel ehrlicher ausgedrückt.
Hier heißt es im Original: le corps propre. Später wird in seinem Werk
daraus das Fleisch. Der Versuch, die alte Aura des Leibes zu retten,
bringt die Vorstellung einer beseelten Leibhaftigkeit hervor, die
sich über die faktisch unmögliche und doch gedachte Trennung von Arbeiter
und Arbeitskraft schon hinauswähnt. Dies ist ein durch und durch egozentrisches
Weltbild, das auf die seelische Subsumtion unter das Kapital (Thomas
Maul) reagiert, sich dabei aber als sein eigener Leibeigener, der er
als Ich-AG nun einmal ist, bestätigt, und somit Ausbeutung und Selbstausbeutung
rechtfertigt, indem es gegen den Begriff polemisiert, und versucht dadurch
einen anderen Begriff und die Sache zu versöhnen, anstatt den Widerspruch
zu entfalten.
Sartres
vorrechtlicher Schuldbegriff beruht vor allem auf dem Bedürfnis den
Henkern und Empörern Rechtstitel zu liefern – einer Angelegenheit,
der Adorno sich aus guten Gründen verweigerte. Von Ideologiekritikern
wie Manfred Dahlmann wird dieses Bedürfnis allen Ernstes mit der existenziellen
Komplettverhunzung der Psychoanalyse abgesegnet. So schreibt er
das Unbewusste komplett leugnend, dass alles, was bisher als Unbewusstes
verstanden wurde, ohne dass dies im Widerspruch zu dessen Analyse stehen
müsste, auch als Resultat bewusster Entscheidungen gelesen werden
kann – zu denen gerade ein Kind schon in den ersten Lebensjahren fähig
ist. (111) In der sans phrase steht dann völlig im Sinne Sartres geschrieben:
Der Antisemitismus ist die Folge einer freien Wahl – wie jede Haltung,
die der Einzelne gegenüber der Faktizität einnimmt. (112) Sartre und
mit ihm Dahlmann, Dornis, Scheit usw. verwechseln die seltene Gabe:
den juristisch unterstellten [!] Willen, der ihn [als juristisches
Subjekt] unter den anderen Warenbesitzern – solchen wie er selbst es
ist – absolut frei und gleich macht, (113) mit wirklicher Freiheit des
Willens, der Wahl und Entscheidung; die Entschädigung mit der sklavischen
Abhängigkeit. Während das Recht bzw. der Richter gezwungen ist, jemanden
so zu verurteilen, als ob sich jemand völlig frei zu seiner Tat entschieden
hat, hat die Kritik dazu sehr viel weniger Berechtigung, wenn sie dem
neuen kategorischen Imperative, den nach Adorno Hitler den Menschen
im Stande ihrer Unfreiheit aufgezwungen hat, ihr Denken und Handeln
so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches
geschehe, (114) gerecht werden möchte. Dass Auschwitz sich nicht wiederhole…
deutet mit aller Dringlichkeit auf das Moment der Prävention.
Was Adornos
und Sartres Arbeiten und Denken unterscheidet, wurde ebenfalls in der
sans phrase festgehalten. Dort kann man lesen, dass die Kritische
Theorie in der Fassung Adornos ihren Schwerpunkt auf die Frage legt, warum
es den antisemitischen Wahn als gesellschaftliches Phänomen gibt,
während sich Sartre, vor dem Hintergrund seiner Philosophie der Freiheit,
vorrangig dafür interessiert, dass sich Subjekte für den antisemitischen
Wahn entscheiden und was das für die Juden bedeutet, Adorno dessen
gesellschaftliche und psychologische Genese, Sartre hingegen
dessen Existenz und deren unmittelbare Voraussetzungen
im Subjekt ins Zentrum rückt. (115) Die unmittelbaren Voraussetzungen
stammen aus Sartres Begriffslabor – sind also wenn überhaupt seine philosophischen
Voraussetzungen, die behaupten, man würde sich völlig freiwillig für
einen Wahn entscheiden. Strenggenommen steht dort nur, und darin ist dem
Zitat völlig zuzustimmen, dass Sartres Schriften gegen den Antisemitismus,
nach Auschwitz auf die Erkenntnis hinauslaufen, dass es Antisemitismus
gibt. Wobei es sehr viel ehrlicher wäre, zu schreiben, dass dies hinter
dem Vordergrund seiner Philosophie der Freiheit abläuft, denn die
ganze Beschäftigung mit der Judenfrage dient nur der Veredelung seines
ideologischen Werkes. Die Aufarbeitung der Vergangenheit, welche
die angestrebte Erziehung zur Mündigkeit miteinschließt, wird obsolet
durch die Setzung der absoluten Entscheidungsfreiheit, also Mündigkeit,
und der darin eingefassten Abrechnung mit der Vergangenheit.
Zu guter
Letzt muss natürlich auch die Empörung, auf welcher auch das Engagements
Sartres beruht, gerettet werden – dies geschah in einem Text Gerhard
Scheits mit dem illustren Titel Über die Wut, die sich als Demut gefällt,
und den Zorn, der zur Kritik gehört. (116) Über den Zorn der scheitschen
Kritik erfährt man leider nicht viel mehr, als das, was im Titel steht.
Überhaupt kommt das Wort nur noch einmal vor. Die Scheitsche Unterscheidung
von Zorn und Wut entspringt einem sehr seltsamen Zirkelschluss: Karl
Kraus, der als Schutzengel dieses Ekels [in Anbetracht linksdeutscher
Zumutungen; P.G.] angerufen werden kann, war allerdings das Gegenteil
eines Wutempiristen. Wenn wütend sein heißt, nicht zu denken, dann ist
der Zorn, der aus seinen Texten spricht, geradezu Inbegriff des Denkens.
(117)
Diese zwei
Sätze enthalten dermaßen viel und komprimierten Unsinn. Ersteinmal
bedeutet, jemanden anrufen, ihn um etwas zu bitten oder auf sich aufmerksam
machen, was im Falle Kraus’ etwas schwierig werden dürfte, sofern hier
nicht jemand mit der Forderung nach der Abschaffung des Todes mit dessen
Leugnung verwechselt. Lesen könnte man ihn bzw. seine Werke, und dort
u.a. einiges über den Zusammenhang von Krieg und Sprache erfahren –
Taktik wäre wohl das Wort, und: Die falschesten Argumente können einen
richtigen Hass bezeugen. In seinem Gedicht Der Zeuge spricht das lyrische
Ich zum Kaiser: Dein Zorn ist deiner Kleinheit Übermaß, der alle Grenze,
alles Maß verrückt, um groß zu sein, wenn er die Welt zerstückt. Schutzengel
waren ihm hingegen Polizeiagenten. Der Anruf von Schutzengeln ist vor
allem Ausdruck eines persönlichen Fürsorgebedürfnis. Zu fragen wäre
auch, wieso aus den Texten des Schutzengels dieses Ekels Zorn und nicht
schlichtweg Ekel spricht, was schließlich eine recht treffende Beschreibung
dessen Ouevres wäre. Nun kommt der Ekel aber nicht im Titel vor. Der Junktor
wenn…, dann…, stellt eine Bedingung dar, und über Wut hat Adorno einmal
etwas geschrieben, das man paraphrasieren, umdrehen und als Bedingung
setzten kann, womit man auf scheinbar sicheren Füßen steht.
Nur hat
Adorno in seinem halb- und breitzitierten Satz nicht geschrieben,
dass, wütend sein hieße, nicht zu denken, sondern: Wer denkt, ist in aller
Kritik nicht wütend. (118) Dem folgt im Zusammenhang, worauf mit einem
Doppelpunkt extra hingewiesen wird: Denken hat die Wut sublimiert. Anders
formuliert heißt es also: Wer denkt, ist nicht mehr wütend bzw. wer
wütend ist, denkt noch nicht. Da nun Karl Kraus’ Fähigkeit zum Denken
wie auch die Ergebnisse dieses Denkens tatsächlich aus seinen Texten
sprechen, kann dieser nicht wütend gewesen sein (Scheit) bzw. nicht mehr
(Adorno). Bei Adorno tritt das Denken an die Stelle Wut, bei Scheit hingegen
muss etwas Neues hinzukommen, das die Empörung doch noch rettet, was
der erst gepriesene Ekel, welcher tatsächlich Teil der Idiosynkrasie
ist oder ihr zumindest sehr nahesteht, anscheinend nicht vermocht
hätte. Wie in der Ilias Homers kommt der Zorn wie aus dem Nichts – während
er dort jedoch im Späteren noch erläutert wird, wird er hier einfach untergeschoben,
als Zorn, der zur Kritik gehört – also der Zorn als Teil oder Voraussetzung
der Kritik. Wer hingegen eventuell wütend war, ist nur noch wütend,
also der bloß Wütende – der nebenbei bemerkt laut Titel sich aber
auch noch in der Demut gefallen soll, und wird dem Zürnenden, heißt hier
und nur hier: dem Kritiker entgegengestellt.
Der Unterschied
von Wut und Zorn ist in zahlreichen Darstellungen oftmals ein nur gradueller,
doch gibt es auch einen qualitativen, nur stellt sich dieser deutlich
anders dar, als es Scheit suggeriert. Schon Aristoteles hat in seiner
Rhetorik den Zorn beschrieben als ein von Schmerz begleitetes Trachten
nach offenkundiger Vergeltung wegen offenkundig erfolgter Geringschätzung,
die uns selbst oder einem der Unsrigen von Leuten, denen dies nicht zusteht,
zugefügt wurde. (119) Damit sind zwei Merkmale besonders wichtig. Erstens
zürnt notwendigerweise der Zürnende immer einer individuell bestimmbaren
Person […] und nicht der Menschheit allgemein und zweitens: mit dem Zorn
geht notwendigerweise eine gewisse Lust einher, die der Hoffnung auf
Vergeltung entspringt. Zorn ist in weiten Teilen ein Rachebedürfnis,
das sich auf eine konkrete Person bezieht. Wie man sich in der Scham betrachtet
fühlt, in der Wut unter Umständen wild um sich blickt, so schaut man im
Zorn in der Regel schon von vornhinein auf jemand bestimmtes von oben
hinab – lange Zeit war dies Gott. Der Zorn speist sich aus dem trügerischen
Wissen im Recht zu sein, und kann nur besänftigt werden. In der Sprache
drückt sich dies so aus, dass man strenggenommen über oder auf etwas
wütend, auf jemanden hingegen zornig ist.
In der Wut
kommt der Vorrang des Objekts als Überwältigung zur Geltung. Deshalb
ist Wut weniger blind als vielmehr ohnmächtig. Wut kann zum Denken führen.
Dann jedoch nimmt sie sich darin zurück und ist höchstens als Impuls des
Denkens zu betrachten. Der Zorn hingegen ist eine Personalisierung
der Aversion. Er erwächst in der Regel aus einer Verletzung des Stolzes
oder eines Anspruchs, den man meint zu haben. Im Katechismus ist er ein
Laster vor allem aufgrund seiner Affinität zum Verlangen nach Rache.
Der säkulare-heilige Zorn, wie er von Scheit propagiert wird, kennt
sein Ziel schon vor dem Denken, weiß sich im Recht und geht somit weit eher
als die Wut unreflektiert in den Text. Die größte Gemeinsamkeit von
Wut und Zorn läge darin, dass man, sofern man von einem der beiden befallen
wurde, erst einmal durchatmen sollte, bevor man in die Tasten haut. Keineswegs
heißt wütend sein, automatisch zum Denken zu gelangen, nur im Zorn
wird es sogar noch schwieriger. Der Wiener Zorn ist nur scheinbar reflektierte
Empörung – man kann sich trotzdem noch als Achilles oder sonstiger
Heros fühlen. In ähnliche Zusammenhänge stellte sich schon sein Mentor
Sartre. In seinem Vorwort zu Fanons Verdammten schrieb er: Die Gewalt
kann, wie die Lanze des Achill, die Wunde vernarben/heilen, die sie geschlagen
hat. (120) Auch Sartre bezieht sich auf den berühmtesten Zorn der Geschichte.
Hannah
Arendt hat dagegen eingewandt: Wenn dies stimmte, dann wäre Rache eine
Art Allheilmittel. (121) Da sie weiß, dass es sich hierbei um Quatsch handelt,
fährt sie fort: Diese neuen Vorstellungen von der Gewalt und dem, was sie
vermag, […] stehen auf einer Stufe mit Fanons ärgsten rhetorischen Entgleisungen
– wie, dass es besser sei, in Würde zu hungern als das Brot der Sklaverei
zu essen. Es bedarf keiner Geschichte und keiner Theorie, um diesen
Ausspruch als Unsinn zu durchschauen; es genügt die flüchtigste Betrachtung
der Körperprozesse. Hätte aber Fanon gesagt, dass es besser sei, sein
Brot in Würde zu essen als Kuchen in der Sklaverei, was natürlich richtig
ist, so wäre die rhetorische Pointe verloren. (122) Bezüglich der Formulierung
Sartres hat Arendt richtig erkannt, dass auch diese eine implizite, dieser
unsäglich suggestiven Wenn-dann-Formulierungen ist, die sich hier
mit ihrer Bedingung auf den Mythos stützt. Aber der Mythos war deutlich
reflektierter als seine heutigen Wiederkäuer: erst einmal kann nur
Achilles selbst die Lanze überhaupt anheben, was ihre Destruktivkraft
und deren beschränkte Handhabe hervorhebt. Dass Achilles selbst sein
Leben im Krieg verliert, ist ein weiterer kleiner Hinweis gegen die Vorstellung
des Allheilmittels namens Gewalt. Vor allem aber heilt die Lanze nicht die
Wunde, die sie schlug, sondern eine einzige. Überhaupt ist die Darstellung,
in der Odysseus erkennt, dass der Orakelspruch, nachdem Telephos nur
von dem Verursacher seiner Wunde geheilt werden könne, sich nicht auf
Achilles sondern seine Lanze bezieht eine überaus ironische, was Sartre
nicht erkennen konnte, da seine Pointe dann wirklich zunichte gegangen
wäre. Die magische Vorstellung, welche in Bezug auf die Waffen im Mythos
schon in ironischer Brechung mitschwingt, hat Marx selbstverständlich
auch wieder an Stirners eigener Vorstellung bloßgestellt: Nur die Waffen
kämpfen, nicht die Leute, die sie führen und zu führen gelernt haben.
Diese sind bloß zum Totgeschossenwerden da. (123) Auch die Anklage der
abstrakten Demut hat Scheit von Nietzsche übernommen, oder direkt vom
Begriffsakrobaten Stirner: Der moralische Einfluss nimmt da seinen
Anfang, wo die Demütigung beginnt, ja er ist nichts anderes, als diese
Demütigung selbst, die Brechung und Beugung des Mutes zur Demut herab.
(124)
Demut ist
nun leider nicht das Gegenteil von Kritik oder Mut, sondern von Stolz
oder gar Hybris, Hochmut, entfernt der Arroganz (125); Stolz ist Ausdruck
der Ehre – und somit verrät Scheit recht prägnant, worauf seine Kritik beruht.
Sehen Wir davon ab, dass Stolz eine Überschätzung ausdrücken könnte,
(126) schreibt auch Stirner, und kann mit dieser äußerst fragwürdigen
Prämisse den Stolz für die Konzeption seiner Empörung einfach nutzen.
Der von Scheit als Schutzengel angerufene Zorn ist Ausdruck des verletzten
Stolzes und nichts Anderes ist die lang und breit mit Sartre betriebene
Subjektüberschätzung – die sich schon in der bloßen Setzung von Zorn
als Modus der Kritik praktisch offenbart, und seit Stirner einiges an
Gewicht aufweist. (127) Auch die mehrmals umgeschriebene Philosophie
der Empörung, die uns soeben in schlechten Antithesen und welken Redeblumen
vorgetragen wurde, ist in letzter Instanz nichts als eine bramarbasierende
Apologie der Parvenuwirtschaft (Parvenü, Emporkömmling, Emporgekommener,
Empörer). (128) Sartres Philosophie ist eine Philosophie des Lebenslaufs.
Die Urwahl ist Berufswahl, die man nur mit drastischen Entscheidungen
wieder revidieren kann. Das Engagement hingegen ist linke Empörung.
Der Begriff des Engagements kommt nicht umsonst von dem Angestelltenverhältnis
bzw. dem Honorar der Künstler oder Sold der Militärs (Gage). Über Jahrhunderte
gab es das dazugehörige Verb nur als transitives: engagiert werden/jemanden
engagieren; jmd. verpflichten oder verpflichtet werden gegen eine Bezahlung.
Die reflexive Form sich engagieren ist erst seit Anfang/Mitte des 20.
Jahrhunderts bekannt, und dem ebenfalls reflexiven Empören nachgebildet.
Es ist
doch sehr unwahrscheinlich, dass der von Scheit bemühte Adorno mit solchen
Zeilen, wie den obigen von Scheit, die Arbeit und Anstrengung des Begriffs,
das heißt also die Arbeit und Anstrengung der Subjektivität gemeint
haben dürfte, denn, dass der Denkende nicht mehr wütend sei, beruht ebenso
auf dem vorangestellten Satz: Was triftig gedacht wurde, muss woanders,
von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten
und ohnmächtigsten Gedanken. (129) Das kann es nun gerade nicht, da
das Postulierte jeder Logik, wie auch jeder Erfahrung widerspricht.
Statt zu
hoffen wäre hierbei eher zu fürchten, dass dieser Quatsch wirklich woanders
und von anderen nachgedacht werden könnte, heißt: dass Leute sich dies
aneignen, es nachmachen/reden und für Gedanken halten, sich dieser
Bauern – bzw. Lumpenintellektuellenfängerei also ergeben, die
sich dem Angenehmen statt der Kritik verschrieben hat. Die betreffenden,
unzähligen Wenn-dann-Konstruktionen sind nur noch Glaubensfragen.
Soll also die Auseinandersetzung mit Sartre einen Sinn haben,…, beginnt
einer jener Sätze und setzt mit dem ersten Teil schon, dass es einen Sinn in
dieser Auseinandersetzung geben müsse. Man kann also den zweiten Teil
des Satzes durchaus ignorieren und zur betreffenden Fußnote schweifen,
in der der wirkliche Sinn der Beschäftigung offenbart wird. Laut
Scheit habe nämlich Manfred Dahlmann nicht nur in dieser Hinsicht […]
in seinem Buch […] neue Grundlagen geschaffen. (130)
Der Kultus
des Einzigen und seines erarbeiteten geistigen Eigentums zieht
sich heute bis in die profiliertesten Personifikationen dieser
neuen existentiellen Ideologiekritik – sei es der Teilzeitpublizist,
der nach jedem Post in den sozialen Netzwerken, welcher vier Zeilen
überschreitet, meint eine Rechnung zu präsentieren, die verkündet,
wieviel er mit dieser Geistesarbeitszeit hätte verdienen können (und
es mit hätte müssen verwechselt), der also sein vermeintliches Vermögen
für Kapital hält, da er auf seinem Blog schließlich Nichtidentisches
anbiete und dabei auch noch eine Sparte namens Gesammelte Werke (131)
zur Verfügung stellt; oder diejenigen, die immer wieder als erste und
einzige einen der immanenten Widersprüche oder blinden Flecken der
Kritischen Theorie entdecken, den sie dann als Einzige befugt seien,
intellektuell und im besten Fall auch monetär auszuschlachten. Einzigkeit
ist ihre trade mark, urteilte schon Helms über solche Gruppenbildungen
(S. 128). Der psychische, individuelle Mehrwert geht auf Kosten der
Kritik, der Sprache und letztlich der Wahrheit – und das ist das zu Kritisierende
(132). Muss man für solch ein Urteil die Herkunft von Stirner ableiten?
Nein, keineswegs. Schon die eigene Erfahrung sollte bei weitem genügen.
Kann man es? Durchaus, wie Hans G Helms dargelegt hat.
Paulette
Gensler
Anmerkungen:
|
es braucht seine Zeit | aber es braucht auch Entschlossenheit | die Gewaltenteilung aufrecht zu erhalten und die mögliche Willkürherrschaft des Autokraten einzuschränken. Wie die USA ihren verrücktesten Präsidenten loswurden Nach der Ermordung Abraham Lincolns 1865 wurde sein Vize Andrew Johnson 17. US-Präsident. Er hasste Schwarze, protegierte Pogrome des Südens und negierte den Kongress. Bis der ihn zurückstutzte. Stand: 11:02 Uhr | Lesedauer: 13 Minuten Von Hannes Stein „So egoistisch, dass es an eine Geisteskrankheit grenzte“: Andrew Johnson, 17. US-Präsident Quelle: picture alliance / United Archives/WHA 103 CarConnect Inklusive ADAC Pannenhilfe. CarConnect Adapter für nur 1 €*. D ass er Präsident wurde, verdankte sich einem irren Zufall. Es war nicht vorgesehen. Und es erwies sich schnell, dass er für das höchste Amt, das die a
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